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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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blickte auf die Straße hinaus. Er wagte nicht, die Augen zu schließen, denn dann begann ein Krabbeln unter seiner Haut, ein Zucken und Gleiten, das ihm angst machte. Er fragte sich, ob er wirklich noch der alte war, ob er sich nicht doch verändert hatte. Um zwei Uhr nachmittags, als die Hitze in Schwaden vom Boden aufstieg, verließ er leise das Haus. Die Tasche mit dem Geld, das er bei Natwar Kahar abgeholt hatte, ließ er im Wohnzimmer auf dem Boden stehen. Er nahm nichts mit, nicht einmal eine Pistole. In der Hosentasche hatte er achttausend Rupien, sein Rampuri-Messer und einen Führerschein auf den Namen Maqbool Khan. Er ging zum Bahnhof, löste eine Fahrkarte zweiter Klasse für einen Expreßzug, und war kurz nach halb sechs in Patna. Dort ging er geradewegs zum Fahrkartenschalter, zahlte vierhundertneunundvierzig Rupien und wartete dann auf dem Bahnsteig, bis zwanzig Minuten nach elf sein Zug einfuhr. Da er keine Reservierung hatte, mußte er, zwischen einer Hochzeitsgesellschaft eingekeilt, im Gang sitzen. In Jhansi verließ er den Waggon und bestach den Schaffner, um einen Liegewagenplatz zu bekommen. Dann schlief er. Die Bewegung des Zuges glich die Unruhe in seinem Körper aus, er konnte ganze Nachmittage hindurch dösen und stand nur auf, um zur Toilette zu gehen oder Wasser zu trinken. Nach etwas über fünfzig Stunden war er in Mumbai.
    Mumbai war sehr weit weg von Jamui, Bhagalpur und Rajpur, es war riesig und anonym, und Aadil wollte dort untertauchen. Doch die Stadt flößte ihm Furcht ein. Sie hatte mehr von einer unbekannten Wildnis an sich als jeder Dschungel. An jenem ersten Tag stieg Aadil aus dem Zug und wanderte die Gleise entlang, ein durchdringender Geruch sickerte in ihn ein, und er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Behelfsmäßige Hütten standen an der Bahnstrecke, und direkt neben den Schienen spielten Kinder, die ihn auslachten, wenn vorbeifahrende Züge ihn zusammenzucken ließen. Die höheren Häuser hinter den Hütten waren grau und schwarz gefleckt und mit Girlanden von Drähten behängt. Aadil kam an einem riesigen, mit Plastiktüten gesprenkelten Müllberg vorbei. An dem eisernen Zaun, der hier den Bahndamm entlanglief, saß ein uralter Mann. Sein Haar war weiß, seine Brust unter der zerrissenen Kurta eingesunken, und neben ihm auf dem Boden stand eine kleine weiße Tasche. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet, weiter noch als bis zu den dunstigen Hügeln. Aadil schauderte, als er an ihm vorbeiging, und beschleunigte seine Schritte. Er hatte großen Hunger und blieb stehen, um sein Geld zu zählen, dann fand er eine Lücke in dem Zaun und schlüpfte hindurch. Er fürchtete sich davor, die breite Straße mit dem nicht abreißenden Strom der Autos zu überqueren, doch schließlich gelangte er hinüber und tauchte in die Stadt ein.
    Aadil wohnte zuerst in Thane, dann in Malad, danach in Borivili und schließlich in der Nähe von Kailashpada. Bastis mit Bihari-Siedlungen mied er, und er zog oft um. Ein Blick des Wiedererkennens jagte ihm Angst ein, und nachts träumte er von Natwar Kahar und einem Trupp bewaffneter Männer, die ihn durch die Straßen Mumbais hetzten. Zwei Monate nach seiner Ankunft sah er an einer Straßenecke in Andheri jemanden, den er aus Rajpur kannte, einen jungen Mann namens Santosh Nath Jha - auch Babloo genannt -, der in der Schule und auf dem College drei Jahre unter ihm gewesen war. Babloo zählte einem Paanvaala gerade ein paar Münzen hin und bemerkte Aadil nicht, der sich erschrocken hinter eine Mauer und in eine Gasse zurückzog. Er spähte noch einmal hervor, um zu sehen, ob es wirklich Babloo war, und machte sich klar, daß solche Zufälle auch nach so langer Zeit noch vorkommen konnten. Dann lief er weg, am äußersten Rand der Straße entlang und mit eingezogenem Kopf. Am nächsten Tag zog er erneut um, in ein kleineres Zimmer in Borivili. Sein Kholi stand am Ende einer sehr engen Gasse direkt an einer Mauer. Von einer Müllhalde jenseits der Mauer drang der Gifthauch der Abfälle herüber, aber eine Zeitlang fühlte er sich dort sicher. Gegen die grauenvolle Verwahrlosung ringsum war das PAC-Lager geradezu luxuriös gewesen, aber er konnte nirgendwo sonst hin. Nach vier Wochen zog er abermals um, weil seine tamilischen Nachbarn zu neugierig waren und Besuch von überallher bekamen, auch aus Bihar. Diesmal fand er ein Kholi in Navnagar, im Bengali Bura. Hier wohnten ausschließlich Bangladeshis, und hier fühlte er sich endlich sicher.

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