Der Pate von Bombay
Leben.
»Laßt mich raus«, sagte ich. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Chhota Badriya rutschte hinter dem Lenkrad hervor. »Nein, nein, bleib sitzen.«
»Aber Bhai...«
»Tu, was ich sage, steig einfach wieder ein. Ich will ein Stückchen zu Fuß gehen.«
Er befürchtete einen dummen Zufall, etwa daß unter den abendlichen Spaziergängern und Bhelpuri-Essenden 082 einer von der anderen Seite sein könnte, der noch einen Abendbummel machte. Es war denkbar, aber ich wollte plötzlich allein sein. Ich hob warnend die Hand, und mein Gesichtsausdruck muß ihn wohl eingeschüchtert haben, denn er stieg sofort wieder ein.
Ich folgte der kurvigen Straße, ging an den Chat-Ständen vorbei bis hinunter zum Strand. Es waren viele Familien unterwegs, die Kinder völlig aufgedreht angesichts der am Ufer entlangtrottenden Pferde, der Spielzeug-vaalas mit ihren silbrig schwebenden Ballonwolken, der Eis-vaalas mit ihren verlockenden Kühltaschen. Hier gab es keinen Krieg. Hier herrschte Frieden. Ich schlenderte entspannt zwischen alten Paaren und Scharen von ruhelosen jungen Männern. Das Meer brandete stetig an den Strand, und schließlich setzte ich mich auf eine halbfertige Backsteinrampe und blickte auf die Wellen hinaus. Ich war müde, leer im Kopf, und es tat gut, zu spüren, wie der sanfte Hauch des Meers in meinen Haaren spielte. Zu meiner Linken regte sich etwas. Ich schaute genauer hin und bemerkte unter einem Berg von Abfall, Palmblättern, durchweichten Pappschachteln und Kokosnußschalen ein kurzes Wuseln, rasches Hinundherflitzen, dann wachsame Stille. Im Schatten huschten weitere Schatten umher, und ich sah, wie sich, von ihrer Freßgier geschüttelt, ein weißer Karton in einer Zickzacklinie verschob. Ich stand auf und stellte mich vor den Karton, und jetzt roch ich die Fäulnis, all die Essensreste, all das Weggeworfene. Doch nichts regte sich mehr. Ich lachte.
»Ich weiß, daß ihr da seid, ihr Ratten«, sagte ich. »Ich weiß es.« Aber sie waren zu schlau für mich. Sie hielten still, und hätte ich es gewollt, hätte ich einige von ihnen töten können, letztlich aber hätten sie meinen Angriff und mich überlebt.
»Bhai!« Der Ruf kam vom Strand. Ich hob den Arm.
»Hier«, rief ich zurück. Sie kamen herbeigerannt, Chhota Badriya und zwei andere.
»Ist alles in Ordnung?« fragte er.
»Alles bestens«, erwiderte ich. Und es stimmte. In meinem Innern bewegte sich etwas, ein kaum spürbares Huschen. Ich wußte, daß ich warten mußte, bis es stärker wurde. »Fahren wir nach Hause«, sagte ich.
Am nächsten Tag arrangierte ich ein Treffen mit Inspektor Samant. Wir trafen uns in einem Hotel in Sakinaka. »Dieser Vilas Ranade«, sagte ich. »Er muß weg. Ich habe zehn Petis 488 .«
Er lachte mir ins Gesicht. Er hatte einen buschigen Schnurrbart, kaum Haare auf dem Kopf und große weiße Zähne. Auf seinem Hemd waren große dunkle Schwitzflecken zu sehen. »Zehn Lakhs!« sagte er. »Für Vilas Ranade. Sie sind wirklich optimistisch.«
»Dann fünfzehn.«
»Wissen Sie eigentlich, wovon Sie da reden? Er war schon da, als Sie noch Milch getrunken haben.«
»Stimmt. Aber können Sie es hinkriegen?«
»Machbar ist es.«
»Sie wissen etwas. Was wissen Sie?«
Seine trüben Augen ruhten unverwandt auf mir. Es war eine ausgesprochen dumme Frage gewesen. Er hatte keinen Grund, mir zu erzählen, was er wußte. Ich war nervös.
»Warum sollte ich es tun?« fragte er.
»Weil ich noch hier sein werde, wenn er längst von der Bildfläche verschwunden ist, Samant-saab. Denken Sie daran, was die Zukunft bringen wird, wenn wir in dieser Sache zusammenkommen. Diese Chutiyas von der Cobra-Gang haben keine Zukunft, keine Vision. Sie tun, was sie tun, aber etwas Neues ist von ihnen nicht zu erwarten. Die Zukunft ist mehr wert als Geld.«
Er hörte mir zu, wischte sich mit einem Taschentuch das glänzende Gesicht. »Dreißig«, sagte er.
»Zwanzig kriege ich hin, Saab. Und wenn das Ganze vorbei ist, kommt mehr. Viel mehr«
»Fünfundzwanzig. Und zwar im voraus, komplett.«
Das war beispiellos und völlig wahnwitzig. Trotzdem sagte ich: »Ja, Saab. Ich bringe sie Ihnen in drei Tagen.«
Er nickte und nahm etwas Saunf aus dem Schälchen in der Mitte des Tischs. Die Rechnung überließ er mir.
»Und dann, in drei Tagen«, fügte ich hinzu, »sollten Sie mich festnehmen.«
Ich hatte keine fünfundzwanzig Lakhs. Ich hatte fünf Lakhs, vielleicht sechseinhalb, wenn ich die diversen kleinen Beträge eintrieb, die
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