Der Pate von Bombay
Genaue Beobachtung führte zwar nicht immer zu Festnahme und Erfolg, aber Sartaj wußte es zu schätzen, daß Katekar sich darüber im klaren war, wie viele Möglichkeiten es gab, einen Menschen zu beschreiben. Nur zu sagen, er sei Hindu, ein armer Mann oder ein Krimineller, machte ihn noch nicht greifbar. Erst wenn man wußte, welches Shampoo er benutzte, was für Musik er hörte, mit wem und wie er Sex bevorzugte, welches Paan er aß, erst dann konnte man ihn kriegen. Katekar stand also in Marys Badezimmer, und Sartaj war sich sicher, daß er an ihrer Seife roch.
»Warum?« rief sie plötzlich und strich sich wütend die Haare aus dem Gesicht. »Warum?«
Sie hatte die Wangenknochen ihrer Schwester, jedoch eine runde, fülligere Kinnpartie. Sie weinte nicht, zitterte aber noch und kämpfte dagegen an, bis Sartaj die Erschütterung nur mehr an ihren Fingerspitzen und ihrem Kinn erkennen konnte.
»Ihre Schwester war in üble Machenschaften mit dem Mafia-Don Ganesh Gaitonde verwickelt«, sagte er. »Das hat dazu geführt, daß -«
»Das sagten Sie bereits. Aber warum?«
Warum das alles? wollte sie wissen. Warum ein Einschuß in der Brust, warum auf einem Betonboden, warum Ganesh Gaitonde? Sartaj zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« Warum bringen Männer Frauen um? Warum bringen sie andere Männer um? Das waren Fragen, die ihn mitunter selbst quälten und die er dann in Whisky ertränkte. Aber konnte man sich nicht ebensogut fragen, warum man lebte? Da taten sich schwindelerregende Abgründe auf, Versuchungen in großer Höhe. Katekar stand an der Badezimmertür, seine Augen funkelten im Sonnenlicht. »Ich weiß es nicht«, sagte Sartaj.
»Sie wissen es nicht.« Sie nickte heftig, als bestätigte das einen schweren Verdacht. »Ich will sie haben«, sagte sie.
»Wie bitte?«
»Ich will sie haben«, wiederholte sie langsam und mit mühsam unterdrückter Ungeduld. »Für die Beerdigung.«
»Ja, selbstverständlich. Einen Leichnam freizugeben kann zwar schwierig sein, wenn die Ermittlungen noch laufen, aber wir werden uns darum kümmern. Ich muß Ihnen allerdings ein paar Fragen stellen.«
»Ich will jetzt keine Fragen beantworten.«
»Aber es betrifft Ihre Schwester. Sie haben doch gerade gesagt, Sie wollen wissen, was passiert ist.«
Sie wischte sich übers Gesicht und beugte sich ein wenig vor, und plötzlich war er es, der eingehend gemustert wurde. Ihre Augen waren von einem helleren Braun, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, und nun sah er auch die Sprenkel darin. Er fühlte sich äußerst unbehaglich unter ihrem langen, ungeniert prüfenden Blick, vor dessen unerwarteter Intimität ihn seine Position hätte schützen sollen. Aber er schlug die Augen nicht nieder. »Wie war Ihr Name noch mal?«
»Inspektor Sartaj Singh.«
»Haben Sie je eine Schwester verloren, Sartaj Singh?« Sie wurde lauter. »Ist je eine Schwester von Ihnen ermordet worden?«
Ihre völlige Furchtlosigkeit irritierte ihn. Normalerweise verhielten sich die Leute, besonders Frauen, Polizisten gegenüber zurückhaltend, vorsichtig, ängstlich, förmlich. Mary Mascarenas hingegen legte eine geringschätzige Lässigkeit an den Tag. Doch da sie soeben ihre Schwester verloren hatte, holte Sartaj tief Luft und unterdrückte seinen Ärger. »Es tut mir leid, daß ich Sie diese Dinge fragen muß, gerade jetzt, wo ...«
»Dann lassen Sie's.«
»Es ist aber sehr wichtig. Der Fall berührt die nationale Sicherheit.« Dann wußte Sartaj nicht mehr weiter. Irgendwie fühlte er sich im Unrecht, und das machte ihn wütend. Mary Mascarenas wirkte zwar nicht ängstlich, aber mutig war sie auch nicht. Sie war traurig und erschöpft und erwartete sich nichts anderes von ihm als noch mehr Leiden. Sie würde sich stur stellen, und sie anzuschreien würde nichts nützen. Sartaj atmete tief ein. »Die nationale Sicherheit. Verstehen Sie?«
»Wollen Sie mich schlagen?«
»Wie bitte?«
»Wollen Sie mir die Knochen brechen? So was macht ihr doch.«
»Nein«, blaffte Sartaj. Dann fing er sich wieder und hob die Hand. »Wir sorgen dafür, daß der Leichnam freigegeben wird. Ein paar Sachen von Ihrer Schwester sind wegen der Ermittlungen noch beschlagnahmt, werden Ihnen aber später ebenfalls übergeben. Ich rufe Sie an, wenn es soweit ist. Hier ist meine Nummer auf dem Revier, dort können Sie mich erreichen.« Behutsam legte er seine Karte auf das Fußende des Bettes, ganz an den Rand, dann wandte er sich ab.
Auf der Treppe schaute
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