Der Pathologe
Marquis’ Platz stehen.
»Endlich kommt das Essen«, sagte der alte Diplomat. »Ich schwinde schon dahin.«
Jeremy betrachtete Marquis’ zusammengeschrumpfte Gestalt und fragte sich, ob das nur scherzhaft gemeint war. Laurent ließ den Wagen zur Rechten von Tina Balleron zum Stehen kommen.
»Es riecht köstlich«, sagte Marquis. »Also gut, Ladys first.«
»Ladys haben das
Recht
, als Erste bedient zu werden«, erwiderte die Richterin.
Marquis stöhnte. »In Momenten wie diesem, meine Liebe, versteht man diese armen Kerle, die sich für eine Geschlechtsumwandlung entscheiden.«
»Wein, Sir?«, fragte die Eurasierin.
Marquis blickte zu ihr hoch. »Geneviève, füllen Sie meinen Kelch bis zum Rand.«
15
Geneviève schenkte einen Weißwein ein, und Laurent servierte als ersten Gang Fischmousse-Quenelles in einem pfeffrigen Fond mit Zitrusnuancen.
Edgar Marquis probierte, leckte sich die Lippen und verkündete: »Hecht.«
»Hecht und Steinbutt«, sagte Arthur Chess.
»Jakobsmuscheln und Hummerrogen in der Sauce«, fügte Norbert Levy hinzu.
»Genug spekuliert«, sagte Tina Balleron und drückte einen Summer zu ihren Füßen. Augenblicke später tauchte Laurent auf.
»Madame?«
»Die Zusammenstellung, Laurent?«
»Weißfisch, Steinbutt und Karpfen.«
»Karpfen«, sagte Edgar Marquis, »ist im Wesentlichen Hecht.«
»Ich«, sagte Harrison Maynard, »bin im Wesentlichen
Homo sapiens
.«
»Und die Sauce, Laurent?«, fragte Tina Balleron.
»Molukkenkrebs, Languste, Zitronengras, ein Spritzer Anisette, gemahlener weißer Pfeffer, ein ganz kleines Stück Grapefruitschale.«
»Köstlich. Vielen Dank.« Als Laurent ging, hob die Richterin das Weinglas, und die anderen taten es ihr gleich.
Kein Trinkspruch; ein Moment des Schweigens, dann berührten Lippen Kristallränder.
Edgar Marquis trank schneller als die anderen, und wie durch Zauberei tauchte Geneviève auf, um sein Glas nachzufüllen. Der Wein war blass und frisch und hatte eine zitronige Note, die mit der delikaten Mousse harmonierte.
Das Klößchen war so leicht, dass es sich auf Jeremys Zunge auflöste. Er ertappte sich dabei, dass er zu schnell aß, und bemühte sich ganz bewusst darum, langsamer zu werden.
Nimm kleine Bissen. Kau unauffällig, aber bestimmt. Ein junger Gentleman schlingt nicht.
Ein junger Gentleman erzählt niemandem was davon, wenn ein älterer Schüler nachts in sein Bett gekrochen kommt …
Jeremy trank einen großen Schluck. Fast unmittelbar darauf begann ihm schwummrig zu werden. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen, und die Fischmousse hatte so viel Substanz wie Krepppapier. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen.
Laurent erschien mit einem Korb, in dem sich verschiedene Brotsorten befanden. Jeremy entschied sich für Olivenbrot und etwas, das mit Sesam versehen war. Ein paar von den Körnern fielen auf seine Krawatte. Er schnippte sie herunter, übertrieben verlegen.
Niemand hatte es bemerkt. Niemand beachtete ihn, Punkt.
Jeder konzentrierte sich aufs Essen.
Er hatte das schon früher bei alten Leuten gesehen. Wussten sie, dass die Zeit kurz war und jedes Vergnügen genossen werden musste?
Jeremys Gabel mit butterzartem Fisch verharrte mitten in der Luft, während er die Tafelrunde beobachtete. Dem Geräusch lauschte, mit dem Gabelzinken auf das Porzellan trafen, der kaum hörbaren Samba entschlossenen Kauens.
So beharrlich. Als ob dies hier ihr letztes Mahl sein könnte.
Werde ich auch so sein,
fragte er sich,
wenn das Verstreichen der Zeit mich mit aller Härte trifft?
Arthur Chess hatte die Gruppe als »unsere ergraute Versammlung« bezeichnet, aber als Jeremy seine Tischnachbarn betrachtete, sah er Aufmerksamkeit, Selbstzufriedenheit, Selbstständigkeit. Blickten diese Leute auf ein gut geführtes Leben zurück?
Ein Segen … dann dachte er an Jocelyn, der nie der Luxus eines allmählichen Nachlassens zuteil werden würde.
Tyrene Mazursky.
Er versuchte, die Flut der sich daraus ergebenden Bilder mit einem gierigen Schluck kühlen Weins zu beschwichtigen. Sobald er sein Glas leer abstellte, wurde es wieder gefüllt. Tina Balleron auf dem Stuhl neben ihm warf ihm einen Blick zu – hatte er sich danebenbenommen? Hatte er seine Gefühle verraten?
Nein, sie hatte sich wieder ihrem Essen zugewandt. Er hatte es sich vermutlich eingebildet.
Er trank zu viel und aß mehr Brot, tunkte die Soße damit auf. Die Konversation wurde wieder aufgenommen – verlief um ihn herum. Die alten Leute redeten
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