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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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schlecht ist.«
    »Zweckdienlichkeit siegt über Tugend«, sagte Harrison Maynard.
    »Wieder einmal«, sagte Tina Balleron.
    »Wie wahr«, sagte Arthur. Er rückte seine Fliege zurecht.
    Alle starrten auf ihr Essen.
    Schweigen.
    Als wenn alle Energie aus dem Raum abgesaugt worden wäre. Jeremy wandte sich an Arthur, weil er sich von ihm eine Erklärung erhoffte. Der Pathologe warf ihm als Antwort einen langen, forschenden Blick zu. Einen traurigen Blick.
    »Nun denn«, sagte Jeremy. »Vielleicht sollte man sich auf die Tugend konzentrieren.«
    Das Schweigen dauerte an. Ein niederschmetterndes Schweigen.
    Arthur senkte den Kopf und steckte den Löffel in sein Sorbet.

16
    Jeremy war nicht sicher, wann es geschah – irgendwann während des Fleischgangs.
    Drei Sorten Fleisch, angeordnet wie Juwelen in einer Auslage, zusammen mit geschmortem Wurzelgemüse,
haricots verts
und gedünstetem Spinat und begleitet von einem samtigen Burgunder.
    Jeremy, der früher ein herzhafter Esser gewesen war, in letzter Zeit diesem Vergnügen aber eher abgeneigt, bekam ein blutig gebratenes Rindermedaillon, mehrere Scheiben Gänsebrust und einen mit Kalbslende umwickelten Klumpen
foie gras
auf seinen Teller. Laurent verteilte das Fleisch, während Geneviève das Gemüse vorlegte.
    Das alles passte gut auf seinen Teller. Jeremy bemerkte zum ersten Mal, dass das Geschirr Übergröße hatte.
    Sanfte Geigenmusik strömte von der Decke herab. Spielte sie schon die ganze Zeit? Jeremy suchte nach Lautsprechern und bemerkte acht, die über den Raum verteilt untergebracht waren, fast verborgen hinter Stuckelementen.
    Ein Raum, der mit Sorgfalt eingerichtet war. Und mit viel Geld.
    Die alten Leute aßen mit unvermindertem Eifer. Edgar Marquis sagte: »Geneviève, seien Sie ein Schatz und bringen Sie mir das Gänsebein.«
    Die Frau verließ den Raum und kehrte kurze Zeit später mit einem einschüchternden Knüppel Fleisch zurück. Marquis hob das Bein mit beiden Händen hoch, attackierte die Spitze und nagte sich langsam nach unten durch. Jeremy versuchte ihn nicht anzustarren – niemand sonst schien das Verhalten ungewöhnlich zu finden. Marquis machte langsame, aber stetige Fortschritte und schien trotz seiner Leistung nicht weniger geschrumpft zu sein.
    Jeremy erinnerte sich an etwas, dessen er sich nie wirklich bewusst gewesen war: ein Scherzwort, das ihm ein entfernter Verwandter während eines Familientreffens zugeworfen hatte. Damals, als er noch Teil einer Familie gewesen war. Mehr oder weniger. Wie alt war er gewesen? Knapp den Windeln entwachsen.
    Wo steckst du das alles hin, Kleiner? Hast du ein hohles Bein?
    Wer hatte das gesagt? Ein Onkel? Ein Vetter? War er wirklich ein heißhungriges Kind gewesen? Wo war sein Appetit geblieben? Wohin war sein Leben verschwunden?
    Neben ihm faltete Tina Balleron ihre Serviette auf und betupfte anmutig ihre Lippen. Ihm gegenüber kaute Arthur Chess wie ein Pferd.
    »Lecker!«, sagte Norbert Levy.
    Jeremy wandte sich seinem Teller zu. Haute rein.
    Es war nicht Arthur, der die Rede darauf brachte, dessen war Jeremy sich fast sicher.
Fast
, weil der Rotwein und die Proteinüberbelastung ihn an den Rand der Benommenheit gebracht hatten.
    Wer war es gewesen … Maynard? Oder vielleicht Levy?
    Irgendjemand
hatte das Thema Gewaltverbrechen zur Sprache gebracht.
    Ah,
dachte Jeremy.
Die Pointe – das ist der Grund, warum sie mich hierher gebracht haben.
    Aber niemand zog ihn zu Rate. Nicht im Mindesten. Sie redeten miteinander, als wäre er gar nicht dabei.
    Ihr hättet mich genauso gut an den Kindertisch setzen können.
    Er beschloss, sich innerlich zurückzuziehen. Aber die Stimmen der alten Leute waren schwer zu ignorieren.
    Harrison Maynard sagte gerade: »Experten sind nur törichte Schnösel, die denselben Unsinn so oft wiederholen, dass sie schließlich selbst daran glauben. Armut erzeugt Verbrechen. Dass ich nicht lache.« Er legte sein Messer hin. »Ich will euch nicht mit einer weiteren traurigen Reminiszenz aus meiner elenden, von Rassismus und Rassentrennung geprägten Jugend langweilen, aber es reicht wohl, wenn ich sage, dass – egal, wo man aufwächst – es früh offensichtlich wird, wer die bösen Buben sind, und das ist ein Phänomen, bei dem man ruhig farbenblind sein kann. Bösewichter fallen auf wie Furunkel an einem Supermodel.«
    Tina Balleron machte eine Pistole aus ihrem Zeigefinger und richtete sie auf niemand Bestimmten.
    »Pardon, meine Liebe?«, sagte Maynard.
    »Die Bösen und

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