Der Pathologe
an diesem Morgen sorgfältig rasiert und machte einen aufgeräumten Eindruck. »Alles lief prima, und dann war sie weg. Es ist einfach Scheiße.«
Jeremy dachte an die rundliche junge Frau mit den mehrfach gepiercten Ohren und dem widerspenstigen Haar. Mit all dieser Wut im Bauch. Dirgrove hatte sie als Risikopatientin rausgepickt.
Es geht mir ganz prima, als ich in diesem Scheißloch hier ankomme … und morgen werde ich aufwachen und mich fühlen, als wäre ich von einem Lkw überfahren worden.
Sie sind ein erwachsener Mensch, und es ist Ihr Körper … wenn Sie also ernsthafte Bedenken haben …
Nöö. Ich werde mit dem Strom schwimmen … was ist das Schlimmste, was passieren kann – dass ich sterbe?
»Große Scheiße«, sagte Jeremy.
»Riesengroße Scheiße.« Dirgrove ließ seine Schultern kreisen. »Die Ergebnisse der Autopsie sollten bald vorliegen. Es hat keinen Sinn, sich länger damit aufzuhalten.«
Er ging.
»Armer Mann«, sagte Angela.
»Arme Patientin«, sagte Jeremy.
Sein Ton war scharf, und sie wurde blass. »Du hast Recht, es tut mir Leid …«
»Mir tut es Leid«, sagte Jeremy. »Ich bin nervös.« Er setzte sich ihr gegenüber hin und griff nach ihrer Hand. Sie überließ ihm ihre Fingerspitzen. Kalt und trocken. »Die Nachricht hat mich überrascht. Als ich nichts von ihm hörte, hab ich angenommen …«
»Schrecklich«, sagte sie. »Gibt es noch einen Grund, warum du nervös bist?«
»Zu viel Arbeit, nicht genug Vergnügen.«
»Ich wünschte, ich könnte mich mit dir vergnügen, aber mich beuten sie auch aus.«
Er sah auf ihr Schokoteilchen. »Nimm es, ich kann nicht mehr«, sagte sie.
»Bist du sicher?«
»Mehr als sicher.«
Er brach ein Stück ab. »Ich wollte dich nicht anfahren.«
»Ist schon gut. Er hätte dich nicht auf diese Weise damit konfrontieren dürfen. Wahrscheinlich tat er mir Leid, weil ich mich mit ihm identifiziert habe. Einen Patienten zu verlieren. Das ist es, was wir alle befürchten, und früher oder später wird es dazu kommen. Ich habe schon ein paar verloren, aber ich war nicht die behandelnde Ärztin, deshalb waren es nicht wirklich
meine
Patienten. Das ist gut an dem, was du tust, nicht wahr? Deine Patienten sterben nicht. Jedenfalls nicht oft.«
»Von Selbstmorden abgesehen«, sagte Jeremy.
»Ja. Natürlich. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?« Sie zog ihre Hand zurück und fuhr sich durch die Haare. Ihre Lider waren schwer. »Ich bin nicht gerade in Höchstform, nicht wahr? Zu viel Arbeit, zu wenig Vergnügen. Aber das Abendessen war ganz toll. Das hat mir sehr gut getan. Mir gefallen die Dinge, die du für mich tust, Jeremy.«
Ihre Hand kehrte zu seiner zurück. Die ganze Hand. Ihre Haut war wärmer geworden.
»Darf ich dich was fragen?«, sagte sie. »Wenn es dazu kommt – zu einem Selbstmord, oder wenn, wie in diesem Fall, eine Patientin stirbt, bei der du konsultiert wurdest – wie gehst du damit um?«
»Man überzeugt sich selbst, dass man sein Bestes gegeben hat, und geht zur Tagesordnung über.«
»Im Prinzip das, was Dirgrove gesagt hat. Es hat keinen Sinn, sich länger damit aufzuhalten.«
»Im Prinzip«, sagte Jeremy. »Man darf kein Roboter sein, aber man darf sich auch nicht jeden einzelnen Fall zu Herzen nehmen.«
»Also lernt man das. Sich zu distanzieren.«
»Das muss man«, sagte er. »Oder man geht daran zu Grunde.«
»Vermutlich.«
»Willst du einen Kaffee?«
»Nein, nicht nötig.«
Jeremy stand auf, goss sich eine Tasse aus der Ärztekanne ein und kam wieder zurück.
»Die junge Frau, die gestorben ist«, sagte Angela. »Glaubst du, Dirgrove hat sich ihretwegen zu Recht Sorgen gemacht?«
»Was meinst du, dass sie sich selbst zu Tode geängstigt hat?«
»Nichts, was derart auf der Hand … doch, ich nehme an, das meine ich. Könnte es nicht etwas sein, das unbewusst abläuft? Gibt es einen Todestrieb, der in manchen Leuten wächst und sie in den Abgrund reißt – der ihre autonomen Funktionen verrückt spielen lässt und ihr Nervensystem mit Stresshormonen vergiftet? Gibt es nicht in Kambodscha einen Stamm, der einen hohen Prozentsatz an plötzlichen Todesfällen aufweist? Nichts ist vorhersagbar, nicht wahr? Man macht all die naturwissenschaftlichen Einführungskurse und glaubt, damit bekommt man es in den Griff. Und dann macht man seine Erfahrungen: Patienten werden als hoffnungslose Fälle eingeliefert, aber dann werden sie wieder gesund und verlassen das Krankenhaus aus eigener Kraft. Andere sind gar nicht
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