Der Pathologe
Nachbarin Ramona Purveyance geben, der alten Dame mit der guten Laune und dem blassgelben Hauskleid. Sie nahm nach dem ersten Läuten ab und klang überglücklich, von ihm zu hören.
»Wie aufmerksam! … Nein, er ist noch nicht wieder zurück. Ich hab seine gesamte Post. Hauptsächlich Werbung, aber ich würde mich nie dazu durchringen, irgendwas wegzuwerfen. Wenn Sie ihn vor mir sehen, grüßen Sie ihn schön, Dr. Carrier. Ich bin so eifersüchtig.«
»Worauf?«
»Darauf, dass er nach Frankreich gefahren ist. Er hat mir eine ganz zauberhafte Ansichtskarte von dort geschickt!«
»Vom Museum der Werkzeuge?«
»Wie bitte?«
Jeremy wiederholte den Namen.
»Oh, nein. Ein wunderschönes Bild von Giverny. Monets Garten. Wunderschöne Trauerweiden und Wasser und Blumen, die zu herrlich sind, um wahr zu sein. Er weiß, dass ich Blumen liebe. Er ist so ein aufmerksamer Mann.«
Blumen für sie, Werkzeuge für mich.
War die Botschaft auf ihn zugeschnitten?
Was
war
die Botschaft?
Es war nicht klar, ob Arthur sich in der Stadt aufgehalten hatte, als die ersten Artikel angekommen waren. Er hatte am Tag, bevor der Zeitungsausschnitt über die ermordeten Engländerinnen eingetroffen war, die Sitzung der Tumor-Kommission geleitet. Aber diesmal – alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass der alte Mann noch in Übersee war.
Wer hatte also den Selbstmord-Artikel geschickt?
Hatte Arthur einen Ersatzmann?
Oder hatte sich Jeremy geirrt, wieder einmal, und Arthur hatte nichts mit den Umschlägen aus der Otolaryngologie zu tun?
Konnte er sich
derart
irren?
Was hatte es dann mit den Postkarten auf sich? Reiner Zufall?
Arthur war auf Reisen und zeigte sich aufmerksam. Schickte jedem hübsche Ansichtskarten.
Blumen für Mrs. Purveyance, Werkzeuge für mich.
Laseroperation an Augen, Laseroperation an Frauen. Ermordete Frauen. Ärzte, die sich selbst töteten.
Skulpturen in Norwegen – norwegische Autoren des ersten Artikels. Russen, Amerikaner …
Werkzeuge in Frankreich. Keine französischen Autoren.
Wenn man es mit kühlem Blick betrachtete, gab es keine Begründung, die die medizinischen Berichte mit den Postkarten verband.
Andererseits gab es auch keinen Grund dafür, einen Zusammenhang auszuschließen.
Arthur und seine verdammte Neugier. Tod und Gewalt,
haute cuisine
und väterlich determinierte Insekten, die sich einem unter die Haut gruben.
Ein spätes Abendessen, das im Rückblick derart merkwürdig war, dass Jeremy daran zu zweifeln begann, ob es je stattgefunden hatte.
Wie man es auch betrachtete, die Umschläge waren eine Manipulation. Jemand schickte ihm die Sachen, schrieb aber seinen Namen nicht auf die Umschläge. Jemand nahm sich die Zeit, sie in den von einem Gummiband zusammengehaltenen Stapel zu schieben, der oben auf der Empfangstheke in der Psychiatrie lag.
Durfte sich eigentlich jeder an seiner Post zu schaffen machen?
Er rief Laura an, die junge Empfangssekretärin, und fragte sie, ob ihr jemand in der Nähe seines Stapels aufgefallen sei.
»Äh, nein«, sagte sie. »Hätte ich ihn im Auge behalten sollen?«
»Eigentlich nicht. Machen Sie sich keine Gedanken deswegen.«
»Es ist ziemlich viel los hier, Dr. Carrier.«
»Vergessen Sie, dass ich gefragt habe.«
Sie legte auf, und Jeremy sah vor seinem geistigen Auge, wie sie den Dialog Familienmitgliedern und Freunden gegenüber wiedergab.
Mit diesen Psychofritzen zu arbeiten ist unheimlich. Verrückter als die Patienten. Da gibt’s zum Beispiel diesen einen Typ, der eine fixe Idee wegen seiner Post entwickelt hat …
Und das war daraus geworden. Eine fixe Idee, und wie alle Neurosen verschlang sie Zeit und Energie.
Genug davon. Er hatte viel zu tun, musste mit Patienten reden, sein Kapitel schreiben.
Aber irgendjemand spielte eindeutig mit ihm. Wenn es nicht Arthur war, wer dann?
Arthur, der schon einmal seine Erwartungen angestachelt und dann zunichte gemacht hatte …
Der alte Mann hatte sogar Jeremys Intuition in Mitleidenschaft gezogen. Bevor er Arthur begegnet war, hatte Jeremy Vertrauen in seine Fähigkeit gehabt, Menschen zu beurteilen, kurz zu taxieren, Vorhersagen zu treffen, all diese Tricks, deren Beherrschung man sich selbst suggerierte, damit man von Zimmer zu Zimmer gehen und die Kranken, die Verängstigten und die Sterbenden trösten konnte.
In letzter Zeit hatte er trotz seiner Bemühungen nichts vorzuweisen als einen Haufen unzutreffender Vermutungen. Die ihn umsorgende Ehefrau, das gute Leben, die
haute cuisine
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