Der Pathologe
blutunterlaufen. »Damit sind nicht buchstäblich Väter gemeint. Im Hebräischen gilt der Begriff als Bezeichnung für Gelehrte. In unserer Tradition wird jemand, der Sie etwas Wichtiges lehrt, genauso geschätzt wie ein Elternteil. Sehen Sie sich das Buch ruhig genauer an.«
»Nein, ich nehme es«, sagte Jeremy. »Wie viel kostet es?«
»Fünfzehn Dollar. Für Sie zwölf.«
»Das ist nicht nötig.«
»Sie tun mir einen Gefallen, junger Mann. Ich werde wahrscheinlich keinen anderen Käufer dafür finden. Hier kommt niemand mehr her. Ich bin ein Relikt aus einer anderen Zeit, und ich sollte eigentlich so klug sein, bei meiner eigenen Beseitigung mitzuwirken. Aber der Ruhestand bedeutet Tod, und ich mag das alte Viertel, die Erinnerung an die Leute, die ich kannte. Mir gehört dieses Haus und ein paar andere an der Fairfield. Wenn ich sterbe, werden meine Kinder alles verkaufen und ein Vermögen verdienen.«
Das brachte Jeremy auf einen Gedanken. »Kannten Sie Mr. Renfrew – den Antiquar?«
»Shadley Renfrew«, sagte Kaplan. »Natürlich. Ein feiner Kerl – ah, Sie kannten ihn, weil sein Laden ganz in der Nähe des Krankenhauses liegt.«
»Ja«, erwiderte Jeremy.
»Ich habe gehört, er ist gestorben. Wie schade.«
»Er hat den Krebs besiegt, und dann hat sein Herz den Dienst versagt.«
»Kehlkopfkrebs«, erklärte Kaplan. »Deshalb hat er nie etwas gesagt. Vor dem Krebs hat er gesungen. Er hatte eine wundervolle Stimme.«
»Tatsächlich?«
»Oh ja. Ein irischer Tenor. Vielleicht war es sein Glück.«
»In welcher Hinsicht?«
»Erzwungenes Schweigen«, sagte Kaplan. »Vielleicht hat es ihn weise gemacht. Das ist noch etwas, das Sie hier drin finden.« Er klopfte auf das Buch. »›Sei vorsichtig mit deinen Worten, damit sie nicht lernen zu lügen.‹ Ich werde es Ihnen schnell einpacken.« Er griff in eine Schublade und zog etwas Glänzendes und Orangefarbenes heraus. »Und hier ist ein Bonbon, das dazugehört. Elite, aus Israel. Die sind sehr gut. Ich hab sie immer den Kindern gegeben, wenn sie hier reinkamen. Sie sind der jüngste Mensch, den ich seit Urzeiten hier in der Gegend gesehen habe, also sind
Sie
heute Nachmittag das Glückskind.«
Jeremy bedankte sich bei ihm und bezahlte für das Buch. Als er die Buchhandlung verließ, sagte Bernard Kaplan: »Der andere Kunde konnte auf seine weisen Sprüche warten. Ich bin froh, dass Sie nicht warten konnten.«
35
Auf dem Weg zu seinem Wagen steckte sich Jeremy das Orangenbonbon in den Mund und zermahlte es zu süßem Zitrusstaub.
Er schlug das Buch auf, während der Motor des Nova warmlief. Die rechte Seite war hebräisch, auf der linken stand die englische Übersetzung. Während der kurzen Zeit, die er in der Buchhandlung verbracht hatte, war die Temperatur gefallen, und im Wagen war es eiskalt geworden. Bis zum Winter war es noch ein gutes Stück, aber seine Windschutzscheibe war mit einer hauchdünnen Reifschicht überzogen. Das lag an der Nähe zum See. Der Wind peitschte über das Wasser und verschärfte die Kälte.
In seinem ersten Jahr am City Central hatte ein Sturm aus dem Norden die Temperatur in zwei Stunden um zwanzig Grad fallen lassen, und die zusätzlichen Generatoren des Krankenhauses hatten gedroht auszufallen.
Unterm Strich habe es keine Todesfälle gegeben, behauptete die Verwaltung, aber Jeremy hatte Geschichten von aussetzenden Respiratoren und von OP-Lichtern gehört, die während einer Inzision ausgefallen waren.
Er machte die Heizung an und griff zum Schalter für die Scheibenwischer, um den Reif zu beseitigen, ließ es dann aber bleiben. Gegen ein wenig Sichtschutz war nichts einzuwenden.
Es war an der Zeit, ein paar Sprüche der Väter zu sich zu nehmen. Nach Bernard Kaplans Zitaten und der Bartlett-Analogie hatte er eine Sammlung von Predigten erwartet, und die Seiten, die er auf dem Weg zum Kapitel fünf überflog, schienen damit konform zu gehen.
Aber Kapitel fünf, Absatz 8, war anders.
Eine Aufzählung von Strafen, die der Welt für eine Reihe von Verstößen auferlegt wurden.
Eine Hungersnot, falls man es versäumte, den Zehnten abzugeben, eine Plage wilder Tiere, wenn man Gott lästerte, Exil für Götzendiener.
Abschnitt e lautete:
Das Schwert des Krieges kommt auf die Welt,
wenn die Gerechtigkeit ausbleibt.
Rabbi Obadia Sfornos Kommentar belegte das mit einem Zitat aus dem dritten Buch Mose:
Ein Racheschwert, das meinen Bund rächen soll
.
Jemand, der darauf aus war, Dinge in Ordnung zu bringen.
Ein
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