Der Pathologe
dieser nach, und er betrat einen winzigen, düsteren Raum. Keine Deckenleuchten; eine Stehlampe mit kupfernem Fuß und einem bernsteinfarbenen Schirm warf einen Lichtkegel auf einen ramponierten Eichenholzschreibtisch. Der Raum hätte muffig riechen müssen, tat es aber nicht.
Hinter dem Schreibtisch saß ein älterer, glatt rasierter Mann mit einem schwarzen Wildlederkäppi auf einem achtlos gestutzten grauen Haarschopf. Ein alter Mann, aber ein großer Mann, dem die Zeit nichts hatte anhaben können. Er war breitschultrig und starkknochig und hielt sich aufrecht wie ein Soldat; er trug ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und geflochtene Lederhosenträger. Eine goldgerahmte Lesebrille saß auf seiner schmalen Nase. Hinter ihm stand eine gläserne Vitrine mit einer wilden Mischung von Gegenständen: Silberbecher und Kandelaber, mit Davidsternen geschmückte Schallplatten (
Uncle Shimmy Sings the Zemiros
), Kinderspiele, Dinger, die wie Plastikkreisel aussahen, Samttaschen, die mit weiteren sechszackigen Sternen verziert waren. Und unter all dem befanden sich drei Bücherborde.
Der Mann bastelte an einer schwarzen Lederschachtel herum, die mit einer Reihe dazu passender Riemen verbunden war, und blickte hoch. »Ja?«
»Haben Sie Rabbi Sfornos Kommentar zu den
Sprüchen der Väter
?«
Der Mann musterte ihn. »Den können Sie über das Internet bekommen.«
»Ich hätte ihn lieber jetzt sofort.«
»Sind Sie wissbegierig?«, fragte der Mann. »Es ist ein sehr guter Kommentar.«
»Das habe ich gehört.«
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Die katholische Buchhandlung hat Sie empfohlen.«
»Ah, Joe McDowell, er war immer loyal.« Der Mann lächelte und stand auf. Mindestens einsneunzig. Er war wirklich riesengroß, und Jeremy fragte sich, wie er in dem winzigen Laden zurechtkam. Er streckte die Hand aus. »Bernard Kaplan.«
»Jeremy Carrier.«
»Carrier … ist das französisch?«
»Vor langer Zeit«, sagte Jeremy. Dann platzte er heraus: »Ich bin kein Jude.«
Kaplan lächelte. »Das sind wenige … entschuldigen Sie meine Neugier, aber Sfornos Kommentar ist eine ziemlich ausgefallene Bitte. Nicht nur für Nichtjuden.«
»Jemand hat ihn mir ans Herz gelegt. Ein Arzt am Central Hospital, wo ich arbeite.«
»Ein gutes Krankenhaus«, sagte Kaplan. »Alle meine Kinder sind dort geboren. Keins hat den Arztberuf ergriffen.«
»Hat Dr. Chess sie zur Welt gebracht?«
»Chess? Nein, den kenne ich nicht. Wir haben Dr. Oppenheimer genommen. Sigmund Oppenheimer. Damals war er einer der wenigen jüdischen Ärzte, die man dort zugelassen hat.«
»War die Personalpolitik des Krankenhauses rassistisch?«
»Nicht offiziell«, sagte Kaplan. »Aber natürlich doch. Und das galt nicht nur für das Krankenhaus. In manchen Bereichen gilt es immer noch.«
»Die Country Clubs.«
»Wenn es nur die Country Clubs wären. Nein, Ihr Krankenhaus war keine Hochburg der Toleranz. Anfang der Fünfzigerjahre gab es Bestrebungen, die wenigen fest angestellten jüdischen Ärzte rauszuwerfen. Dr. Oppenheimer war der Grund dafür, dass es nicht dazu kam. Der Mann hat so viele Babys zur Welt gebracht, dass seine Entlassung die Einkünfte zu stark reduziert hätte. Er war Geburtshelfer bei den Kindern des Bürgermeisters und bei so gut wie allen, die den Besten haben wollten. Er hatte goldene Hände.«
»Es ist oft so, dass Dollars und Cents eine große Rolle spielen«, sagte Jeremy.
»So ist es. Und das ist der springende Punkt in den
Sprüchen der Väter
. So sollte es nicht sein. Im Leben kommt es auf mehr an als auf Dollars und Cents. Es ist ein wundervolles Buch. Mein Lieblingszitat ist: ›Je mehr Fleisch, desto mehr Maden.‹ Oder: ›Wer ist glücklich? Der mit dem zufrieden ist, was er hat.‹ Wenn wir nur das begreifen würden – und ich schließe mich dabei ein. Wie dem auch sei, Dr. Carrier, zufällig
führe
ich ein Exemplar der Sforno-Ausgabe, weil ich es für einen Mann bestellt habe, der es sich anders überlegt hat und mich darauf sitzen ließ, weil er es billiger über das Internet gekauft hat.« Kaplan öffnete die Vitrine, zog ein Taschenbuch mit einem rötlich grauen Einband heraus und reichte es ihm.
Jeremy las den Titel.
»Pirkei Avos?«
»Das ist hebräisch«, sagte Kaplan. »
Pirkei
heißt Kapitel, im Plural;
Pirkei Avos
sind wörtlich die Kapitel der Väter.«
»Wer waren die Väter?«
»Keine Priester, das steht fest.« Kaplan lachte leise. Seine Augen waren graublau, amüsiert und leicht
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