Der Pestengel von Freiburg
giftigen Menschenatem. So ähnlich, wie sich der Aussatz durch Berührung von Mensch zu Mensch übertrug, so konnte der Pesthauch eines Kranken durch dessen Atemluft in den Körper des Gesunden eindringen und die inneren Organe verfaulen lassen.
In Sachen Ansteckungsgefahr hielt Grathwohl nichts von dem Rat der studierten Ärzte, die Fenster geschlossen zu halten und Sonnenlicht und Südwind zu meiden. Eher schon von der Empfehlung, den Kranken auf einem Hochbett zu lagern, da die giftigen Ausdünstungen und Atemwolken in ihrer Wärme nach oben stiegen und damit nur die oberste Luftschicht des Raumes verpesteten. Das Allerwichtigste indessen schien ihm, möglichst wenige mit dem Kranken in Berührung kommen zu lassen. Diejenigen, bei denen es unumgänglich war, wie die Priester und Ärzte, mussten jene Vorkehrungen treffen, die er Benedikt bei seinem ersten Krankenbesuch gezeigt hatte.
«Es scheint, dass Essig und Wein in ihrer Säure einen Schutz gegen die Miasmen bilden, und sie sollten mittels getränkter Schwämme oder Tücher vor Nase und Mund gehalten werden»,diktierte er seinem Sohn in die Feder. «Starkriechende Stoffe oder Aromen mögen diese Wirkung unterstützen. Ist man mit einem Kranken in Kontakt getreten, so sind hernach gründliche Essigwaschungen an Gesicht und Händen vorzunehmen.»
Von Aderlässen, die das schädliche Blut abführen sowie von Einläufen, die Fäulnisgase und faulige Speisereste aus dem Körper treiben sollten, hielt sein Vater indessen gar nichts, da sie den Erkrankten nur zusätzlich schwächten.
Einmal war Benedikt bei einer Frau dabei gewesen, die dem Tod geweiht war, und er musste den Priester holen. Bei der jungen Weißnäherin hatte das Aufschneiden der Beulen nichts mehr genutzt. Zu seinem Erstaunen befahl der Vater den Angehörigen, den Pfarrer mit der Sterbenden allein zu lassen. Auch er selbst verließ das Zimmer und erklärte ihnen den Grund. Die Kranke solle bei der Beichte nicht flüstern müssen, sondern laut und vernehmlich reden. Nur so könne der Pfarrer weit genug entfernt stehen und sich vor Ansteckung hüten.
Je mehr Zeit Benedikt mit seinem Vater verbrachte, desto mehr bewunderte er ihn. Er bewunderte den Mut, mit dem er die Unglückshäuser betrat, die Zuversicht, mit der er seine Behandlungen durchführte, und die Gelassenheit und Demut, wenn er am Ende doch nicht hatte helfen können. Wie stumpfsinnig kam ihm jetzt sein tägliches Steineklopfen, das Säubern und Hüten des Werkplatzes vor angesichts der schier unmenschlichen Aufgabe, die sein Vater auf sich genommen hatte. Zum ersten Mal fragte er sich, welchen Sinn all sein in Stein geschlagener Zierrat, ja all die Herrlichkeit des Kirchenbaus hatte angesichts dieses Albtraums einer alles vernichtenden Seuche.
Inzwischen sehnte er sich schon beim Erwachen jeden Morgendanach, seinen Vater zu unterstützen, auch wenn er nicht mehr als Handlangerdienste verrichten und die Angehörigen im richtigen Umgang mit der Krankheit belehren durfte. Das heißt, da gab es noch etwas, was er zu leisten vermochte. Bald schon hatte Benedikt gespürt, wie tröstlich es seinem Vater war, wenn an Tagen, wo er mit seiner Heilkunst nichts mehr ausrichten konnte, Benedikt bei ihm war. Besonders hart traf es Grathwohl, wenn er zu einem der selteneren Fälle von Lungenpestilenz gerufen wurde. Meist fanden sie dann nur noch den Leichnam vor.
«Gibt es denn bei dieser Form gar kein Mittel, um das Gift rechtzeitig nach außen abzuführen?»
«Nein, mein Junge. Und es wird niemals eines geben. Der Verlauf ist zu schnell, als dass man eingreifen könnte. Spuckt der Kranke erst einmal Blut, ist der Tod gewiss.»
Kapitel 23
F ilibertus Behaimer ließ sein Messer mit dem zarten Hühnerbruststück auf der Spitze sinken und lauschte. Selbst durch die geschlossenen Fenster des Kleinen Saals drang das Läuten der Totenglocken von Unserer Lieben Frau herauf. Und das, wo er morgen wieder auf Krankenbesuch in die Stadt hinuntermusste, zum Bürgermeister, der über Schmerzen im linken Bein klagte.
Seitdem Behaimer auf die Burg gezogen war, mitsamt seinem Knecht und all seinen Büchern und Schätzen, führte er nur noch selten Consultationen in der Stadt durch. Da mussten schon die Vornehmen und Amtsträger nach ihm rufen, und auch das ließ er sich, angesichts der Pestgefahr, mit einem saftigen Honorar entlohnen. Hierzu traf er alle erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen: Während er seinen Knecht mit der Matula, die mit einem vierfachen
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