Der Pestengel von Freiburg
gräflichen Befehl an seinen Leibarzt weitergab – umso besser!
«Lasst mich nur machen, lieber Graf. Und ich weiß auch schon, wen ich mir zu diesem Zweck vor den Karren spannen werde.»
«Mutter?»
Clara schrak aus ihren Grübeleien. «Hast du etwas gesagt, Johanna?»
«Ich hab gefragt, ob dir das Süßkraut nicht schmeckt? Diesmal hab ich Beeren hineingetan, die letzten Strauchbeeren vom Waldrand. Das heißt, Michel und Kathrin haben sie gepflückt. Ganz allein.»
«Das habt ihr wunderbar gemacht, ihr beiden. Und es schmeckt wirklich gut.»
«Aber du hast ja nicht mal versucht», maulte Michel.
«Ach herrje!»
Clara stach ihren Holzlöffel in die Schüssel mit Kraut und Rüben und nahm sich zwei, drei Bissen.
«Es schmeckt wirklich gut», murmelte sie und legte den Löffel wieder auf die Tischplatte.
Johanna hatte sie kopfschüttelnd beobachtet.
«Seit Tagen isst du nichts mehr, und Vater redet nicht – wenn er überhaupt zum Essen erscheint», sagte sie schließlich. «Das ist alles wegen der Juden, nicht wahr?»
Als Clara keine Antwort gab, hakte sie nach: «Was geschieht jetzt mit ihnen?»
Da hob Michel zu heulen an.
«Meine Freunde sagen alle, dass sie bald aufgespießt und verbrannt werden. Und dann sind Jossele und Eli tot!»
Clara sprang auf und drückte ihn an ihre Brust. «Das ist Unsinn, mein Junge, dummes Gerede. Der Heilige Vater und unser König halten ihre schützende Hand über sie. Und auch die Grafen von Freiburg sind Freunde der Juden. Hab also keine Angst.»
In diesem Augenblick ging die Küchentür auf, und Heinrich trat ein.
«Ich musste zu einem Krankenbesuch in die Neuburgvorstadt. Ist noch zu essen da?»
Verwundert sah er erst Clara, dann den schluchzenden Jungen an.
«Was ist mit ihm?»
«Er hat Angst um Jossele und Eli», erwiderte Clara. «Gibt es etwas Neues?»
«Dem Nachtwächter geht es schon wieder besser, und nachher muss ich nochmal in die Neuburgvorstadt. Das Kind, bei dem ich eben war, hat hohes Fieber.»
«Das meinte ich nicht.»
Heinrich nickte müde. «Ich weiß.»
Er streifte sich den Umhang ab und setzte sich ans Kopfende des Tisches. Lustlos begann er zu essen.
«Ich wollte, du hättest eine Stimme im Rat der Stadt», sagte Clara leise.
Heinrich sah auf. Sein Blick schien zu sagen: Das würde auch nichts nutzen.
«Ich habe Benedikt getroffen», sagte er schließlich. «Er wohnt bei Meister Johannes.»
«Wenigstens das.» Clara spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Sie setzte sich wieder an ihren Platz. «Besser als in den kalten Schlafstuben im Gesellenhaus.»
«Bleibt er jetzt für immer fort?» Michel kamen erneut die Tränen, und die kleine Kathrin weinte, wie sie es oft tat, gleich mit, ohne genau zu wissen, worum es ging.
«Jetzt ist aber gut!», brauste Heinrich auf. «Ihr tut ja grad, als sei das Weltenende hereingebrochen. Hör auf zu heulen, Michel. Du bist kein Kleinkind mehr. Oder brauchst du Benedikt noch immer als deinen Beschützer?»
Der Rest der Mahlzeit verlief in bedrücktem Schweigen.
Clara dachte an ihren Ältesten. Seit jenem verhängnisvollen Morgen vor vier Tagen hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Seinen hasserfüllten Blick, nachdem er wieder zu sich gekommen war, würde sie nie vergessen. Warum bloß war das Schicksal so grausam? Wären die Grünbaums nur einen Tag früher nach Straßburg aufgebrochen, dann hätten sie ihrer Verhaftung entgehen können. Ihre einzige Hoffnung klammerte sich nun daran, dass man sie bald wieder freilassen würde. Es musste unerträglich sein, bei dieser Kälte in den Verliesen der Stadt zu sitzen und nicht zu wissen, was als Nächstes geschehen würde.
Immer wieder traten ihr Deborahs und Esthers angsterfüllte Gesichter vor Augen, als man sie weggeschafft hatte – auch dieses Bild würde sie nie vergessen. Das war, als Clara es endlich mit Hilfe einiger Frauen geschafft hatte, ihren bewusstlosen Sohn aus dem Hauseingang zu ziehen und hinaus auf die Straße zu schleppen. Während sie auf der kalten Erde neben Benedikts leblosem Körper kniete und darauf wartete, dass jemand Heinrich zu Hilfe holte, führte ein Büttel die Grünbaums und deren Dienstmagd in Handfesseln an ihr vorbei. Der immer noch halbnackte Moische taumelte vorweg, hinter ihm Esther im schlichten Kleid, Deborah im pelzverbrämten Wintermantel, danach der Rest der Familie. Die beiden Frauen wehrten sich nicht, sie wehklagten nicht, sie gingen aufrecht und mit erhobenem Kopf. Dann plötzlich – ein
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