Der Pestengel von Freiburg
durchdringender Schrei: Esther hatte Benedikt am Boden erkannt. Sie stürzte nieder auf die Knie, wollte ihn berühren, als einer der Wärter sie auch schon erbarmungslos in die Höhe riss.
Clara hätte ihr gern etwas Tröstliches zugerufen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie musste hilflos mit ansehen, wie der Pöbel erst Deborah den Mantel vom Leib, dann Esther das wollene Tuch vom Kopf zerrte, ohne dass die Stadtwächter eingeschritten wären. Endlich war Heinrich gekommen und hatte Clara geholfen, den Jungen ins Haus zu tragen.
Anderntags hatte sie erfahren, dass die Stadtwächter nur mit Mühe eine Plünderung der Häuser hatten verhindern können. Man hatte die Männer in die Kerker der Tortürme geschafft, die Frauen und Kinder, da die Gefängnisse nun übervoll waren, in den Spitalkeller. Clara war, als sei dies alles schon Jahre her, obwohl es doch erst vor kurzem geschehen war. Nur langsam fand sie zurück in das Jetzt, bemerkte mit Erstaunen, dass der Esstisch bereits abgeräumt war, dass Johanna sich mit ihrerHandspindel ans Spinnen gemacht hatte und Heinrich mit zwei Bechern in der Hand vor ihr stand.
«Kommst du mit in die Stube? Du siehst blass aus, der Wein wird dir guttun.»
Schwerfällig erhob sie sich und folgte ihm in die Wohnstube.
«Hier, trink.»
Folgsam, wie eine ihrer hilfsbedürftigen Kranken, hob sie den Becher an die Lippen und trank den Wein in fast einem einzigen Zug leer. Heinrich zog einen angerosteten Schlüssel von seinem Schlüsselbund am Gürtel.
«Den hat Moische mir gegeben, am Tag, als Meinwart und seine Spießgesellen ihn bedroht hatten. Er hat wohl geahnt, was auf sie zukommen würde.»
«Was ist das für ein Schlüssel?»
«Unter ihrem Schuppen», Heinrich senkte die Stimme, «ist ein Erdloch. Dort hat Moische eine Kiste mit Schmuck und Geld versteckt. Das hier ist der Schlüssel für die Kiste. Moische hat gesagt, wir sollen sie in unsere Obhut nehmen, bis alles vorbei ist.»
«Wir müssen die Kiste zu uns schaffen.»
«Genau das wollte ich mit dir besprechen. Ich hab schon eine Grube hinterm Hühnerstall ausgehoben. Heute Nacht, wenn die Kinder schlafen, holen wir die Kiste zu uns.»
Clara nickte.
«Außerdem habe ich beim Rat der Stadt beantragt, die Gefangenen auf ihren Gesundheitszustand zu untersuchen. Erst wollte man nichts davon wissen, aber Pfefferlein und Neumeister haben mich unterstützt. Schließlich könne man nicht ausschließen, dass einer von ihnen eine ansteckende Krankheit habe. – Wirst du mitkommen?»
Wieder nickte sie nur. Sie fühlte sich elend müde.
«Aber es wird kein schöner Anblick sein. Ich wäre dir nicht böse, wenn du das nicht ertragen wolltest.»
«Nein, Heinrich, ich komme mit.» Dann fragte sie, genau wie kurz zuvor Johanna: «Was wird wohl jetzt mit ihnen geschehen?»
Heinrich verstaute den Schlüssel zuunterst in der großen Holztruhe der Wohnstube. Seine Stimme klang dumpf aus der Tiefe der Truhe.
«Einige der Männer sollen wohl verhört werden. Wir können nur beten, dass sich damit alles zum Guten wendet.»
Zwei Tage später machten sie sich auf den Weg hinüber ins Spital, ihrer ersten Station der Gefangenenbesuche. Heinrichs große Arzttasche war prall gefüllt. Neben stärkenden Kräuterelixieren und einer Dose mit Theriak hatten sie eine wollene Decke hineingestopft. Unter ihrem Umhang trugen sie jeder noch eine weitere Decke, gedacht für die Kinder, um damit die Winterkälte wenigstens ein klein wenig zu mildern.
Als sie gegen die Seitenpforte klopften, begann es in Claras Kopf zu schwindeln, und sie musste sich für einen Moment an ihrem Mann festhalten. Sie hätte es ihm gegenüber niemals zugegeben, aber die Furcht vor dem, was auf sie zukam, raubte ihr fast den Atem.
Der Spitalknecht öffnete ihnen.
«Ah, Meister Heinrich, Frau Clara – grüß Euch Gott! Kommt nur herein, ich führ Euch hinunter.»
Sie folgten ihm durch einen engen, düsteren Gang bis zu einer Treppe. Dort nahm der Knecht eine brennende Tranlampe vom Haken und führte sie zwei Treppen tiefer in einen Gewölbekeller. Am Ende des Ganges, vor einer eisernen Gittertür,hockte breitbeinig ein Wächter in Decken gehüllt auf seinem Holzschemel. Es stank nach Moder und Urin.
Erst auf den zweiten Blick erkannte Clara in dem Mann Rudolf, den einstigen Ratsboten. Vor langer Zeit, als das zwischen ihr und Heinrich seine ersten zarten Anfänge genommen hatte, hatte auch Rudolf ihr den Hof gemacht. Einstmals war er ein schmucker
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