Der Pestengel von Freiburg
Bursche gewesen, mit vollem dunklem Haar, einem stets sorgfältig gestutzten Bart und eitel bis zur Halskrause. Jetzt indessen wirkte er reichlich heruntergekommen. Schüttere graue Strähnen klebten ihm am Schädel, seine Augen waren rot gerändert, und das Gebiss wies mehr Lücken als Zähne auf, als er sich jetzt erhob und breit grinste.
«Clara! Was für eine Überraschung!», rief er. Aus seinem Mund stiegen Atemwölkchen auf, so eisig war es hier unten. Er wollte sie umarmen, besann sich dann aber, angesichts Heinrichs warnenden Blickes, eines Besseren.
Clara reichte ihm die Hand. «Was machst du hier? Ich dachte, du hättest ins Elsässische geheiratet?»
«Hab ich auch, aber mein gutes Weib ist im vergangenen Jahr gestorben, und so hat es mich zurück in meine Heimatstadt gezogen. Nun ja, als Amtsbote tauge ich nicht mehr, das Augenlicht ist zu schwach. Und so verdien ich mir mein Altersbrot eben als Stockwärter.»
Clara hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Ihr Auge schweifte durch den halbdunklen Raum hinter dem Gitter. Aus einer winzigen Öffnung hoch oben im Gewölbe drang ein Schimmer Tageslicht, der Boden war mit Stroh bedeckt, das einen beißenden Geruch verströmte, und in der hinteren Ecke zeichneten sich schemenhaft die Umrisse von Menschen ab, die sich dicht zusammendrängten.
«Ich muss sagen, Heinrich», fuhr Rudolf fort und klopfteHeinrich gönnerhaft gegen die Schulter, «du bist immer noch zu beneiden um dein Weib.»
«Lass gut sein, Rudolf. Wir sind nicht zum Plaudern hier. Werden die Frauen und Kinder anständig versorgt?»
«Dass Schmalhans jetzt Küchenmeister ist, daran müssen sie sich gewöhnen. Die fetten Jahre sind halt vorbei für das Judenpack.»
«Sprich nicht so! Übrigens, wenn ich mich recht erinnere, hättest du dir dazumal ohne das Geld von Moische Grünbaum und Noah Liebekind deine protzige Hochzeit gar nicht leisten können.»
«Das mag sein – aber ich hab dafür auch teuren Zins bezahlt. Hör zu, Heinrich: Sie bekommen ausreichend sauberes Wasser und Brot, der Aborteimer wird auch jeden Abend geleert, und ansonsten ist das hier kein Rittersaal, sondern ein Kerker.»
«Ist jemand krank?»
«Ein paar von ihnen husten seit gestern.»
Clara war an die Gittertür getreten und griff nach der Lampe, die neben dem Schemel stand. «Dann lass uns jetzt hinein.»
Rudolf zuckte die Schultern. «Das ist doch grad für die Katz», brummelte er und zog seinen Schlüsselbund hervor.
Quietschend öffnete sich das Gitter. Clara folgte ihrem Mann in das Innere des Verlieses, ihre Beine wurden bleischwer. Der Gestank herinnen war kaum zu ertragen. Unter ihrer Hand erzitterte der Schein der Lampe, als sie sie jetzt in die Höhe hielt. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, hätte sie am liebsten laut losheulen mögen. Im dreckigen Stroh, eng aneinandergekauert, erkannte sie Deborah mit ihren beiden Jüngsten im Schoß, Esther und das junge Dienstmädchen. Neben ihnen die Familie der Süßkinds, die reichsten Juden der Stadt, dann Noah Liebekinds Frau Rachel mit den beidenTöchtern und ihren Hausmägden, die Lämmlins, die Fromolts, die Nases, die Vischelins, die Mannes sowie einige Frauen und Kinder, die Clara nur vom Sehen kannte. Sie alle starrten Clara und Heinrich mit ausdruckslosen Augen an. Nur über Esthers Gesicht huschte ein Lächeln.
Heinrich holte hörbar Luft. «Gut, fangen wir an. Ich werde den Puls messen und den Atem abhören. Sagt mir bitte, wenn ihr irgendwelche Beschwerden habt. Wir haben Arzney mitgebracht. Die Kinder zuerst.»
Clara warf einen kurzen Blick zu Rudolf. Er hatte sich, nachdem er das Tor hinter ihnen verschlossen hatte, wieder auf seinem Schemel niedergelassen. Jetzt zog er aus einer Mauernische einen Weinschlauch hervor und hob zu trinken an. Offensichtlich schien ihn das weitere Geschehen in der Zelle nicht mehr zu interessieren. Also zogen sich Clara und Heinrich die Decken unter den Umhängen hervor. Heinrich öffnete die Arzttasche und begann mit seinen Untersuchungen.
«Deckt euch damit zu», sagte Clara leise, nachdem sie Deborah die Decken überreicht hatte. «Ich weiß, es ist wenig genug, aber ihr könnt euch ja abwechseln.»
«Wozu? Wir brauchen dein Mitleid nicht. Es ist eh zu Ende.»
«Bitte, Deborah! Rede nicht so vor den Kindern.»
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich über Deborahs abweisende Worte geärgert, doch diesmal konnte sie sie nur allzu gut verstehen. Wie demütigend musste diese Situation für sie sein! Sie
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