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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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vermeintlich berechtigte Wut langsam grenzenloser Scham wich. Dem einen oder anderen fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass er womöglich nicht nur materiellen Schaden angerichtet, sondern ein weit darüber hinausgehendes Unglück mit zu verantworten hatte.
    Während sich das Feuer immer weiter ausdehnte, breitete sich Unruhe unter den Gaffern aus. Sie hatten zwar das Haus in Brand gesteckt, aber fest damit gerechnet, dass sich die vierköpfige Familie vor dem Feuer retten würde, indem sie ins Freie lief.
    »Warum kommt denn niemand heraus?«, fragten sie sich irritiert.
    »Da die Hennen und die Gockel zu uns herausgetrieben wurden, muss auch jemand im Haus sein«, stellte ein besonders Kluger fest.
    »Na klar, du Narr! Den Juden haben wir vorhin doch gesehen. Aber du Hornochse musstest ihm ja einen Stein an den Kopf werfen«, bekam er vom ›Pater‹, der sicherheitshalber schon mal damit begann, sich aus der Verantwortung zu stehlen, vorwurfsvoll zur Antwort.
    »Herr, hilf«, flehte ein älterer Mann mit ängstlichem Blick zum verdunkelten Himmel, während er trotz seiner Rückenschmerzen die Hände so weit nach oben zu recken versuchte, als wenn er dadurch den Herrgott würde auffangen können, falls dieser leibhaftig herunterschweben sollte – ein irrwitziges Unterfangen. Ja, jetzt wäre ihnen der Schöpfer von Himmel und Erde wieder recht, um alles ungeschehen zu machen oder wenigstens zu helfen. Aber der Herr hilft nur denen, die Reue zeigen … und Buße tun. Zuerst kommt die Reue, dann die Buße und danach erst die Hilfe. Außerdem lag irgendwo dazwischen noch etwas: Vergebung! Aber wer sollte denen, die gestrauchelt waren, vergeben, wenn sie nicht selbst bereit waren, etwas dafür zu tun. Den Stein, in den Moses das alte Testament gemeißelt hatte, konnte man zwar gegen ein jüdisches Haus werfen, musste sich aber nicht wundern, wenn er zurückflog.
    Während die ersten der inzwischen wieder zurückgekehrten Frauen damit begannen, sich zu bekreuzigen, hörten einige von ihnen Leas Hilferufe.
    »Seht doch! Dort, eine Hand, … die ein Ei hält«, zeigte ein jüngerer Mann, dessen Augen noch in Ordnung waren, in Richtung Stalltür, die man durch den Qualm gerade noch erkennen konnte.
    »Um Gottes willen! … Seht doch, ein Kind! Das muss die kleine Lea sein! Tut doch etwas«, schrie eine Frau mittleren Alters, die selbst Mutter von vier Kindern war.
    So nach und nach legte sich die Erstarrung und einige Männer rannten in Richtung der ausgestreckten Hand, um ihr Gewissen zu erleichtern … oder um wenigstens so zu tun. Als sie so nahe am Haus waren, wie es die Hitze zuließ, war die Hand mit dem Ei verschwunden.
    »Herrgott, hilf«, schrie die vierfache Mutter wieder und hielt sich, weil sie das von ihr vermutete Elend nicht sehen mochte, beide Hände vors Gesicht.
    Einem der Männer liefen die Tränen herunter. Er ließ sich auf den Boden sinken und sprach schluchzend ein Gebet, während ein anderer kopfschüttelnd immer wieder murmelte, dass es ihm leidtue.
     
    *
     
    Lea indessen kniete wieder bei ihrem Vater. Sie hatte jetzt auch noch mit dem ätzenden Rauch zu kämpfen und hustete sich die kleine Lunge aus dem geschundenen Leib. »Papa … Papa, die wollen das Ei nicht«, entschuldigte sie sich weinend.
    Der landwirtschaftliche Teil des Anwesens war inzwischen gänzlich zusammengebrochen und brannte lichterloh. Jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit, bis das Feuer auch den Wohnbereich völlig im Würgegriff haben und niederbrennen würde. Um Lea und ihren Vater herum krachten brennende Balken und Bretter herunter. Es knallte und schepperte in allen Teilen des Hauses. Zudem näherten sich den beiden bedrohliche Hitze und tödlicher Qualm.
    »Lea … «
    Das Mädchen glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Papa? … Papa!«
    »Hör zu, mein Kind, du musst dich … «
    Der Vater war wieder zu sich gekommen und versuchte mit aller Kraft, seiner Tochter etwas zu sagen. Er hob eine Hand und deutete dem Mädchen mit einer leichten Bewegung des Zeigefingers, dass sie ihren Kopf ganz nahe zu ihm neigen sollte. Kaum vernehmbar hauchte er ihr ins Ohr: »Mein Mäuschen … « Er brachte es kaum heraus: »Das … das Loch!«
    Lea verstand nicht, was er damit meinte. Hatte sie ihn richtig verstanden? Das Loch? Welches Loch?
    Der Mund ihres Vaters war trocken und die Zunge angeschwollen. Dennoch presste er noch etwas heraus, das in der Stunde des Leids wie Balsam für Leas Seele wirkte: »Ich liebe

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