Der Peststurm
sie heute noch nach Buflings hinaus wollte. Dort erhoffte sie sich, von einem Großbauern weitere Verpflegung zu bekommen, obwohl sie mit dem fett gefressenen Großkotz, dessen massiger Rücken halslos direkt in den feisten Hinterkopf überging, bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Aber die Hoffnung auf die Läuterung schlechter Menschen stirbt ja bekanntermaßen zuletzt, dachte sie sich frohgemut. Würde ihr dies heute auch noch gelingen, wären die nächsten Tage gesichert. Und sollte sie danach noch die Zeit dazu haben, würde sie ihren Leiterwagen das Stückchen weiter bis zum Siechenhaus hinunter ziehen, um sich dort nach Heini und dem Stand der Dinge in der Leprosenanstalt zu erkundigen. Es interessierte sie schon sehr, wie es dort ohne sie lief und ob dort überhaupt noch Kranke und Verletzte und nicht nur Sieche und Gebrechliche aufgenommen wurden. Diesen Umweg wollte sie aber nur auf sich nehmen, wenn sie sicher sein konnte, vor Einbruch der Dunkelheit wieder im Staufner Spital zu sein.
*
Im von der Außenwelt abgeriegelten Schloss wusste man noch nichts von den beiden Brandopfern. Siegbert hatte zwar von seinem Wachposten aus gesehen, dass vom ursprünglich dicken Qualm zwischenzeitlich nur noch ein paar Rauchfetzen übrig geblieben waren, ahnte aber nichts vom Grauen, das sich im Dorf unten zugetragen hatte. Da der Kastellan nicht hier war und er niemanden unnötig aufschrecken wollte, hatte er es vorgezogen, die Sache zunächst für sich zu behalten. So wartete er sehnsüchtig darauf, dass Lodewig und Sarah zurückkommen und ihm etwas über den Brand erzählen würden. Ungeduldig schlurfte er den Wehrgang entlang, als er jemanden den Schlossberg hochkommen sah.
Lodewig? »Na, endlich«, entfuhr es ihm erfreut.
Als die Person näher kam, stellte er aber fest, dass es sich um eine krummbuckelige Alte handelte. Es war die für ihre Boshaftigkeit bekannte Leni, die man im Mittelalter nicht nur wegen ihrer Gottlosigkeit und wegen ihres lockeren Mundwerks auf den Scheiterhaufen geschickt hätte. Beim Anblick des hässlichen alten Weibes schauderte es Siegbert.
Nachdem ihr Mann und ihre Kinder der Pest erlegen waren, war sie jetzt die einzige ›Ungläubige‹ in Staufen. Leni hatte schon immer das irrige Gefühl, nur aufgrund ihrer atheistischen Einstellung von den anderen Staufnern gemieden zu werden. Deswegen hatte sie eine Stinkwut auf Jockel Mühlegg und seine Mutter, die einzigen Lutheraner in Staufen, die sich trotz ihrer andersartigen Religionszugehörigkeit allseitiger Beliebtheit erfreuen konnten, und dies, obwohl sie auch noch die Ärmsten des Dorfes waren. Aber auf die Bombergs hatte sie einen richtigen Zorn; denn auch ihnen war es trotz ihres undurchschaubaren Glaubens gelungen, viele Jahre in Ruhe gelassen und sogar von den meisten geachtet, zumindest aber respektiert zu werden. Darauf, dass ihre Unbeliebtheit an ihrem Schandmaul liegen könnte, war Leni nicht gekommen.
Als die Frau schnaufend vor dem Schlosstor stand, fragte Siegbert schroff, was sie hier zu suchen habe.
Da Leni vor einigen Jahren auf Betreiben des damaligen Ortsvorstehers wegen ihrer provozierenden und obrigkeitsverachtenden Sprüche vor Gericht zitiert worden war und einen ganzen Markttag lang die rostige Schandmaske hatte tragen müssen, weil sie Unwahrheiten über die gräfliche Familie verbreitet hatte, war sie nicht gut auf die Obrigkeit, zu der sie auch den Kastellan zählte, zu sprechen. Seither suchte sie nach einer Gelegenheit, ihm eins auszuwischen. Aufgrund der tadellosen Integrität des gräflichen Schlossverwalters und seiner Familie war ihr dies in all den Jahren nicht gelungen. Jetzt aber hatte sie eine Neuigkeit, die den Kastellan wie ein Blitz treffen würde. Da sie wusste, dass die Dreylings von Wagrain mit der jüdischen Familie befreundet und seit Kurzem sogar angeheiratet verwandt waren, hatte sie sich schnell auf den Weg gemacht, um Lodewig bei der Übermittlung der traurigen Nachricht zuvorzukommen. Sie freute sich diebisch auf die Reaktion des Kastellans, wenn er von ihr erfahren würde, dass fast das ganze Judenpack ausgelöscht war. Es wäre ihr noch lieber gewesen, berichten zu können, dass alle Bombergs verbrannt waren. Es ärgerte sie, dass Sarah überlebt hatte.
»Lass mich ein und bring mich sofort zum Kastellan«, versuchte sie forsch, Siegbert anzuweisen.
»Für geschwätzige Weiber ist kein Platz im Schloss! Um was geht es überhaupt?«, bremste er ihren
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