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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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besinnungslos geworden war. So unglaublich es klingen mochte, das hatte ihr das Leben gerettet. Durch die Besinnungslosigkeit war ihre Atmung flacher geworden, und sie hatte dadurch nicht nur weniger Sauerstoff verbraucht, sondern auch noch weniger Qualm in die Lunge bekommen, als dies bei einer vollen Atmung der Fall gewesen wäre.
    Wenn ihr Vater die Tür nicht so genau eingepasst hätte, wäre sie unweigerlich erstickt. So aber hatte nur wenig Qualm in das Vorratsloch eindringen und das Feuer auch nur geringfügig Sauerstoff entziehen können.
    Zum Glück war die Wärme nach oben gestiegen und hatte sich auf der Abdeckung nicht allzu breitgemacht. Zudem war das Lehmloch so feucht und kühl gewesen, dass es die Hitze der Umgebung hatte ausgleichen können. Irgendwann war die Kleine aus ihrer Besinnungslosigkeit erwacht, hatte sanft das Ei umklammert und sich eingeigelt.
    Die Sorge um das Ei hatte ihr fast übermenschliche Kräfte verliehen. Später aber war der Sauerstoff doch noch so knapp geworden, dass ihre Sinne wieder geschwunden waren. Ihre Rettung kam in allerletzter Minute.

Kapitel 39
     
    Während in einigen anderen Orten des Allgäus die Pest schon im September abzuebben begonnen hatte und teilweise sogar erloschen war, sollte sie in Staufen erst Ende Oktober ihren Höhepunkt erreichen.
    Als vor sechs Wochen das Bomberg’sche Anwesen niedergebrannt worden war, hatte es einen gewaltigen Schub gegeben, der immer noch anhielt und die Zahl der zuvor etwa 400 Pestopfer auf insgesamt 621 hochkatapultiert hatte. Damals hatte sich der Großteil der Staufner vor dem brennenden Haus der Juden versammelt und dadurch den Überträgern dieser schrecklichen Seuche ein noch breiteres Betätigungsfeld geboten, als dies zuvor schon der Fall gewesen war. Normalerweise verließen die Rattenflöhe die durch sie Infizierten erst, wenn sie ihre Arbeit erfolgreich verrichtet hatten und ihre Opfer schon eine gewisse Zeit tot waren. Wenn sich aber die Gelegenheit ergab, sich schon vorher einen neuen Wirt auszusuchen, kam es vor, dass dies von den abenteuerlustigen Biestern ausgenutzt wurde. Dementsprechend hatte sich die Zahl der Toten drastisch erhöhen können, wodurch sich auch die Gesamtsituation verschlimmert hatte.
     
    Der allgegenwärtige Tod hatte die Leute mittlerweile so weit abstumpfen lassen, dass ihnen alles gleichgültig geworden war. Daran, dass die Bevölkerung seit Monaten tagtäglich weiter dezimiert wurde, hatte man sich unterdessen so sehr gewöhnt, dass man den Verstorbenen nicht mehr lange nachweinte. Die Tränenkanäle der Menschen schienen ausgetrocknet und der angeborene Überlebenswille gebrochen zu sein. Sie lebten nur noch von heute auf morgen und kamen auf die abstrusesten Gedanken: Der Sohn des Müllers ehelichte ein Mädchen, das er erst vor 24 Stunden näher kennengelernt hatte. Als der Tod diese Verbindung schon zwei Tage später auflöste, fiel dem anständigen Burschen nichts Besseres ein, als sich noch am selben Tag einem ortsbekannt lottrigem Weib antrauen zu lassen. Es schien gerade so, als wenn er im Angesicht des Todes mit aller Gewalt versuchen wollte, seine Gene weiterzugeben. Und er war nicht der Einzige. Unter den Staufnern kam es zu einer regelrechten Heiratswut. Ein 79-jähriger Methusalem nahm eine noch Ältere zur Frau. Da sie unbedingt von Propst Glatt getraut werden wollten, hatte er alles, was er noch besaß, der Kirche vermacht. Ihre Beweggründe waren sicherlich nicht die des Müllersohnes. Vielmehr hofften sie, dem grausamen Tod durch die Pest gemeinsam trotzen zu können.
    Die blutjunge Magd Stasi heiratete in der ehrwürdigen Kapelle zu Zell ihren Herrn – den Schwester Bonifatia bestens bekannten Großbauern aus Buflings – , obwohl sie diesen nicht ausstehen konnte, weil er sie seit ihrer Kindheit mehrmals in der Woche geschändet hatte. Dass sie die Fleischeslust jetzt freiwillig mit ihm teilte, mochte wohl daran liegen, dass des Bauern Frau und alle anderen, die von ihm hätten erben können, der Pest erlegen waren.
    Während die einen ihr Heil in künstlicher Sinnlichkeit suchten, tanzten andere unter den Klängen der Drehleier und der Schalmei auf dem Marktplatz. Ein Grüppchen fand sich sogar auf dem Kirchhof zusammen, um die Leere, die ihre Geister und Gemüter bedrohte, durch Ringelreihen zwischen den Gräbern hindurch zu bekämpfen, anstatt an diesem geweihten Ort zu beten. Aber die Menschen hatten nicht nur das Arbeiten verlernt, sondern auch das Beten.

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