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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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Anstatt des ›Vaterunser‹ leierten diejenigen unter ihnen, die es kannten, nur noch das Alphabet herunter.
    »Darin stecken alle erdenklichen Gebete. Der Herrgott kann sich ja die passenden aus den Buchstaben zusammenstellen«, lästerte die Wirtin der ›Alten Sonne‹, deren Mann gerade in ein paar zurechtgesägte Kanthölzer runde Punkte schnitzte, um Spielwürfel daraus zu fertigen.
    Dummerweise hatte er sich vor ein paar Wochen von einem fahrenden Händler dazu überreden lassen, all seine Spielwürfel zu verkaufen. Er hatte gedacht, dass er sie nicht mehr benötigen würde. Seit Ausbruch der Pest waren kaum noch Gäste gekommen die toppelten und dabei zwar meist ihre letzte Habe verloren, aber ihm während des Spielens gute Umsätze beschert hatten. Er hatte ja nicht wissen können, dass sich die Spielsucht jetzt – auf dem Höhepunkt der Pest – auch ehedem braver Leute bemächtigen würde und Glücksspiele jeder Art ein beliebter Zeitvertreib werden sollten. Alles, was Gott und der Graf verboten hatten, wurde jetzt gespielt.
    Glück in der Liebe gibt es mittlerweile ebenso wenig wie Glück im Leben, dachten die Leute und suchten ihr Heil wenigstens im Spiel, während sie des nahenden Todes harrten. So waren jetzt auch die ›Hazard-Spiele‹ beliebt geworden. Derlei Zerstreuung gab es auf die verschiedensten Arten, die bisher allerdings allseits gemieden worden waren. Aber dies war den Staufnern im Augenblick egal. Wo es keine Kläger gab, waren auch keine Richter. Und wenn schon! Was konnte jetzt noch schlimmer werden? Und womit könnte man sie mehr strafen als mit der Pestilenz?
    Egal, wie sich jeder Einzelne in sein Schicksal fügte und damit umzugehen versuchte, hatten sie alle eines gemeinsam: Wenn es genügend Alkohol gab, würden sie das, was ihre Herzen und Sinne aufschreien lassen wollte, damit betäuben. Aber Alkohol jeder Art war ebenso rar geworden wie Lebensmittel – insbesondere, seit der beste Schnapsbrenner weit und breit, der seinen Qualitätsschnaps in der ›Höll’‹, einem geheimnisvollen und verborgenen Ort in der Tiefe des Weißachtales, brannte, der Pest erlegen war. Wie sich die Seuche in diesem von Staufen weit entfernten Einödhof hatte einnisten können, war allen ein Rätsel. »Wahrscheinlich hat sie ein reisender Händler dorthin gebracht«, mutmaßten gerade die Männer, die den hervorragenden Branntwein mit dem außerordentlichen Geschmack vermissten. »… oder sie ist vom Bergdorf Steibis zu uns heruntergekommen! Dort soll die Pest erst vor Kurzem gewütet haben«, orakelten hingegen die Frauen, die aber im Grunde genommen überhaupt nichts wussten.
     
    *
     
    Seit sich selbst der Bunte Jakob nicht mehr nach Staufen traute, bekam nicht einmal der Totengräber frische Waren. So mussten jetzt auch er und sein Helfer, der endlich wieder gesund geworden war, darben. Da Fabio nun plötzlich anstelle von Essen mehr Geld erhielt, blieb er trotz der härter gewordenen Arbeit in den Diensten des Totengräbers. Er legte Heller um Heller für ›ein Leben nach der Pest‹ beiseite. Um an Nahrung zu kommen, musste er sich nur seiner früheren Talente erinnern. Da er im Gegensatz zu allen anderen das Diebeshandwerk von der Pike auf erlernt hatte, mangelte es ihm an wenig und er war – im Gegensatz zu seinem Herrn, der höhere Ansprüche in Bezug auf Reichtum stellte – recht zufrieden.
    Ruland Berging ging es überhaupt nicht gut. Unabhängig davon, dass sich der Gedanke in seinem Gehirn festgefressen hatte, Lodewig endlich beseitigen zu müssen, und es ihn ärgerte, dass er dies bis jetzt nicht geschafft hatte, lief auch noch sein Geschäft schlecht. Er wusste, dass seine einträglichste Zeit vorbei wäre, wenn er sich nicht schleunigst etwas einfallen lassen würde. Ihm fiel auf, dass seit geraumer Zeit weniger frische Leichen vor den Türen lagen, als dies in den letzten Monaten der Fall gewesen war, obwohl es jetzt mehr Tote pro Tag gab als je zuvor.
    Obwohl die Pest unbeschreiblich grausam wütete, wusste er, dass sie nicht das einzige Problem war, mit dem die Bevölkerung zu kämpfen hatte. Sie war nur die Ursache dafür, dass aus den ehedem ehrbaren und unbescholtenen Staufnern längst nicht nur Einzeltäter geworden waren. Sie brandschatzten, plünderten und mordeten jetzt im Namen des Hungers, der sie tagtäglich zu unbeschreiblich wüsten Handlungen trieb. Um an Nahrung zu kommen, hatten sich etliche Männer sogar in Banden zusammengetan, die sich jetzt –

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