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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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wollte, war er ganz besonders darauf bedacht, stets einen sauberen Henkersbuckel vorweisen zu können.
    Auch wenn sich jetzt niemand mehr für den Medicus und dessen unrühmliches Ende interessierte, hieß dies nicht, dass die Überlebenden ihre toten Angehörigen und Freunde vergessen hatten. Im Gegenteil: Obwohl die Hinterbliebenen den Kirchhof während der ganzen Zeit, als die vermeintliche Pest gewütet hatte und aus Angst vor Ansteckung sogar darüber hinaus, gemieden hatten, konnten sie es jetzt nicht mehr erwarten, bis der Schnee auch im schattigen Kirchhof weggeschmolzen sein würde. Auch wenn niemand wusste, unter welchem Dreckhaufen die eigenen Verstorbenen lagen, hatten sie jetzt das Bedürfnis, ordentliche Gräber herzurichten und Kreuze aufzustellen. Jedenfalls brauchten sie Plätze, an denen sie ihre Toten wähnten, um dort trauern und für sie beten zu können. Den ehemaligen Aushilfstotengräber Fabio, der sämtliche Tote des Jahres 1634 unter die Erde gebracht hatte, konnten sie ja nicht mehr fragen. Aus taktischen Gründen hatte ihn der Kastellan offiziell für tot erklärt.
     
    Obwohl die Menschen bettelarm waren, ließen viele von ihnen in der Kirche Messen für ihre Lieben lesen. Einige von denen, die unerwartet ihr Geld wieder zurückbekommen hatten, drückten dem Propst ein paar Kreuzer in die Hand. Sie hofften, dadurch Gottes Schutz für die Zukunft und Seelenheil für die Verstorbenen erkaufen zu können. Aber es flossen nicht nur kleine Spenden – es taten sich auch große Dinge: Da das kinderlose Ehepaar Karl und Seffa Hagspiel-Mahler die vermeintliche Pest überlebt und kein Familienmitglied zu betrauern hatte, gelobte es, am Fuße des Staufenberges eine kleine Gedenkkapelle zu errichten. »Wenn uns der Herr dann auch noch mit Kindern segnet, werde ich noch härter für die hohen Herrschaften arbeiten, um das nötige Geld für den Kapellenbau zu verdienen«, schrie der wegen seines ungewöhnlichen Berufes als ›Spinner‹ abgestempelte Uhrmacher besonders laut über den Marktplatz, damit es ja alle hören sollten und er von seinem Gelöbnis nicht mehr zurücktreten konnte. Sein lautstarker Schwur führte dazu, dass sich spontan ausreichend Männer dazu bereit erklärten, beim Bau zu fronen , um dadurch ihr eigenes Seelenheil zu sichern. Es waren ausnahmslos Familienväter, die keinen einzigen Heller übrig hatten, um eine Messe lesen zu lassen. So hofften sie, auf diese Art den Segen Gottes zu erhalten.
     
    *
     
    Das Wetter war so schön, dass sich auch die Blaufärber hinauswagten. In diesem Jahr saßen sie zum ersten Mal auf dem Bänkchen hinter dem Haus und genossen die wohltuende Wärme der Sonnenstrahlen und den Blick zur Nagelfluhkette . Sie sprachen über Eginhard, der ihnen am Ende des vergangenen Jahres so großartig geholfen hatte, indem er ihre Erfrierungen behandelt hatte, und dem sie sich zu großem Dank verpflichtet fühlten. Als sie unweigerlich auf ihren eigenen Gesundheitszustand zu sprechen kamen, driftete das Gespräch ungewollt auf ihre beiden verschwundenen Söhne ab. Seufzend schmiegte die Blaufärberin ihr Haupt an die Schulter ihres Mannes, der ihr mit seinen verbliebenen Fingern sanft über die Wange strich. In Gedanken versunken, blieben sie eine ganze Weile wortlos sitzen. Obwohl sie den Rest des Winters nur vors Haus gegangen war, wenn es unbedingt erforderlich erschien, und sie sich nie weit davon entfernt hatte, war auch der Blaufärberin etwas vom Toten im Entenpfuhl zu Ohren gekommen. Niemals wäre sie darauf gekommen, dass es sich dabei um ihren ältesten Sohn Otward handeln könnte. Was hätte er auch vor seiner Abreise nach Dietmannsried an diesem Weiher zu tun gehabt? Und dass es sich bei dem Toten auch nicht um den jüngeren Sohn Didrik gehandelt hatte, war für sie sowieso klar, seit sie erfahren hatte, dass der Tote ein Erwachsener war.
    »Lass uns ein Stück laufen. Die morschen Knochen werden es uns danken«, unterbrach der Blaufärber die beklemmende Ruhe. Im Gegensatz zu seiner Frau ahnte er irgendwie, dass der Tote im hüfttiefen Tümpel sein Ältester sein könnte. So schlug er – seine Frau am Arm – den Weg zum Entenpfuhl ein. Der ebene Weg dorthin war für die beiden die einzige Möglichkeit, in der Nähe ihres Hauses weder bergauf noch bergab laufen zu müssen. Sie spürten jeden einzelnen Schritt und ihre Glieder schmerzten bei jeder Bewegung. Immerhin wären sie im Winter fast erfroren, hatten ein paar Zehen und Finger dem Frost

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