Der Peststurm
sie langsam die Hand ihres Mannes öffnete, Diederichs Haare herausnahm, sie küsste und ihre Hand darüber schloss.
Kapitel 45
Eigentlich wollte der Totengräber sein Opfer noch an Ort und Stelle erschlagen haben. Er hatte den Stein schon in Händen gehabt, sich aber im letzten Augenblick vor dem tödlichen Hieb besonnen und über die Sache nachgedacht. Dieser lästige Bursche hat über einen langen Zeitraum hinweg meine Gedanken beherrscht. Genauso lange soll er jetzt in der Hölle schmoren, hatte er schließlich beschlossen und den Steinbrocken, anstatt auf Lodewigs Schädel, neben ihn auf den Boden knallen lassen.
Danach hatte er die Hände und Füße des Besinnungslosen zusammengeschnürt und ihm einen Knebel in den Mund gesteckt, über den er zur Sicherheit auch noch ein Tuch gebunden hatte. Um in Ruhe den Leichenkarren holen zu können, hatte er sein besinnungsloses Opfer in das Loch zurückgestoßen, den Dreck aus der Nut gekratzt, damit er die Luke verschließen konnte, und hastig den schweren Stein als Gewicht daraufgelegt. Danach hatte er auch noch ein paar Bretter zum Kaschieren darübergeworfen. »Den hört und sieht hier niemand mehr. Ich kann die verdammte Karre holen«, murmelte er zufrieden und schlurfte in die Dunkelheit.
Als er kurze Zeit später zurückkam, warf er den schlaffen Körper des jungen Mannes auf das mitgebrachte hölzerne Gefährt und deckte ihn mit einer Plane zu. Um diese Uhrzeit waren die auch tagsüber menschenleeren Straßen und Gassen des Dorfes sowieso wie ausgestorben. Auch wenn jemand das knarzende Geräusch, das der Eisenbeschlag der beiden Räder auf den Kieselsteinen und den teilweise gepflasterten Straßen verursachte, hören sollte, würde man sich nichts dabei denken und nicht einmal den Kopf aus dem Fenster herausstrecken, weil man glaubte, dass es Fabio wäre, der seiner Arbeit nachging.
Es war stockdunkel. Seit vor fast zwei Stunden die beiden Trupps die Suche nach Lodewig aufgegeben hatten, kümmerte sich sowieso niemand mehr um das, was draußen vor sich ging. So zog der Totengräber den Karren nahezu unbemerkt vom Unterflecken durch das Dorf bis zum ›Löwen‹ hoch, von wo aus der Weg steil abfiel. Sein Ziel war wie geplant die Pestkapelle in Weißach, in der er Lodewig einzusperren gedachte. Er konnte sich absolut sicher sein, dass sich dort außer ihm selbst und Fabio derzeit niemand hinwagte. Und Fabio würde er die nächste Zeit zurückpfeifen, sodass sein zuweilen übereifriger Helfer nicht einmal in die Nähe der Pestkapelle kommen würde.
Gegen ein paar Tage Erholung nach seiner Erkrankung wird der Bursche ja wohl nichts einzuwenden haben, dachte sich der Totengräber zufrieden, obgleich er eigentlich noch nicht so recht wusste, was er mit seinem Opfer zu tun gedachte. Er wusste nur, dass er letztendlich von Fabios dortigem Leichenhaufen die obersten Toten herunternehmen und Lodewig dazwischenpacken würde – tot oder lebendig. Zuvor aber würde er dessen auffällige noble Gewandung gegen einen alten Fetzen eintauschen. Nur so konnte er sicher sein, dass der Sohn des Kastellans niemals erkannt, zumindest aber bis zum nächsten Frühjahr unentdeckt blieb und er selbst genügend Zeit hatte, um seine Flucht aus Staufen vorzubereiten. Bis dahin gedachte er abzusahnen, wo es noch möglich war, auch wenn sich die Sache jetzt – gemessen an den guten Geschäften der vergangenen Monate – kaum noch lohnte.
*
Da auch der Blaufärber keinen Schlaf fand, hörte er das durch den Leichenwagen verursachte Gerumpel und blickte zum Fenster hinaus.
»Gott sei dieser armen Seele gnädig«, murmelte der gottesfürchtige Mann und bekreuzigte sich. Das wird unsere morgige Suche nicht gerade erleichtern, dachte er, als er sah, dass es zu allem Überfluss auch noch zu schneien begonnen hatte.
Dies hatte zur Folge, dass es auch für den Totengräber zunehmend ungemütlicher wurde. Bald klatschte ihm der starke Schneeregen wie Nadelstiche entgegen. Um sich zu schützen, zog er sich die Kapuze tief ins Gesicht. Da ein Auge blind war, sah er sowieso schon schlecht. Jetzt aber konnte er kaum noch etwas erkennen und kam deswegen mehrmals fast vom Weg ab. Da es auch noch rutschig geworden war, hatte er große Mühe, den klobigen Karren zu halten. Um zu verhindern, dass das Gefährt mitsamt seiner Ladung in einen Graben rutschen oder gar den Berg hinuntersausen konnte, musste er sich umdrehen und sich mit aller Kraft den Buckel hoch dagegen stemmen. Er
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