Der Peststurm
betroffen zu und ergänzte schuldbewusst, »außerdem hätten wir uns auch sofort um die Tote kümmern müssen.« Ihm war jetzt erst klar geworden, dass es gestern nicht gut war, seinen Freund davon abzuhalten, das Wams mitzunehmen und die Frau einfach so liegen zu lassen. »Aber die Suche nach Lodewig hat schließlich Vorrang gehabt«, sagte er noch zu seiner Entschuldigung.
Nachdem sich auch Ignaz’ entsetzter Blick von der Leiche gelöst hatte, suchten alle noch die Umgebung nach Lodewigs Wams ab, bevor sie sich erfolglos auf den Weg zum Blaufärberhaus machten.
Da sich niemand um die Tote gekümmert hatte, sie immer noch fast nackt da lag und allein schon deswegen kein Anblick für gläubige Katholiken war, erbarmte sich Nepomuk. Er zog die Frau beiseite, legte sie vor ein Haus, wo er sie bedeckte und ihr die Hände faltete.
Als sie bei der Färberei ankamen, stand Hannß Opser schon parat und klagte: »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.«
»Wir auch nicht. Dann kann es ja sofort losgehen«, drängte der Kastellan zur Eile. »Gut, dass es zu schneien aufgehört hat«, kommentierte er noch die Wetterlage.
»Ja«, entgegnete der Blaufärber nickend. »Als ich heute Nacht das Geklapper des Leichenkarrens gehört habe, bin ich zum Fenster, um kurz rauszuschauen. Ich habe schon die Befürchtung gehabt, dass es die ganze Nacht schneien und der Schnee die letzten Spuren Eures Sohnes verdecken würde.«
Ulrich Dreyling von Wagrain packte ihn am Unterarm. »Was sagt Ihr da? … Hat Fabio den Karren gezogen?«
»Nein! Nein«, winkte der Blaufärber fast lächelnd ab. »Zu meiner Verwunderung hat der Totengräber zu dieser nächtlichen Stunde selbst gearbeitet. Da ich meistens diesen verwilderten Knaben mit vollbeladenem Leichenkarren in Richtung Weißach ziehen und leer wieder zurückkommen sehe, habe ich mich darüber gewundert.«
»Habt Ihr ihn noch in der vergangenen Nacht oder heute früh zurückkommen sehen?«
Hannß Opser schüttelte den Kopf. »Weder noch! Ich habe mich dann wieder in die Schlafkammer zurückgezogen, von wo aus ich das Geschepper des Karrens nicht noch einmal gehört habe. Womöglich bin ich doch ein wenig eingenickt.«
»Ihr wisst also nicht, ob er wieder zurückgekommen ist?«
Hannß Opser schüttelte den Kopf.
Der Kastellan wirkte jetzt unruhig und teilte Ignaz, Rudolph und den Blaufärber hastig dazu ein, im Dorfzentrum und in Richtung Kalzhofen nach Lodewig zu suchen. »Und dass ihr mir ja in jeder Ecke nachschaut«, beschwor er die drei Männer, bevor sie abzogen. »Ach ja«, rief er ihnen noch nach, »zuvor aber kümmert ihr euch um die tote Frau. Bitte!«
Er hat tatsächlich ›Bitte‹ gesagt«, wunderte sich Rudolph.
*
»Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«, fragte Nepomuk, der hinter Ulrich herrennen musste, wenn er ihn einholen wollte.
»Das wirst du schon noch sehen.«
Als sie ein Stück des Weges hinter sich gelassen hatten, brach der Kastellan sein Schweigen und erzählte dem ausnahmsweise nicht besonders gut gelaunten Mönch von seinem unguten Gefühl, der Totengräber könnte Lodewig verschleppt haben.
»Vielleicht hat er ihn nach Weißach gebracht? Jedenfalls ist nicht sicher, dass Ruland Berging von dort wieder zurückgekommen ist. Die Pestkapelle wäre ein sicherer Platz. Dort traut sich außer den Leichenbestattern zurzeit niemand hin.«
»Hm«, knurrte Nepomuk nur.
Die Hoffnung, Lodewig dort zu finden, ließ ihre Schritte schneller werden. Dummerweise nahmen sie kurz vor der Stelle, an der vergangene Nacht der Karren zersplittert war, eine Abkürzung durch die Felder. Hätten sie dies nicht getan, wären ihnen die Leisen im Dreck, die der Karren hinterlassen hatte, der zerstörte Zaun und einige Holzsplitter, die der Totengräber aufgrund der Dunkelheit und des frisch gefallenen Schnees beim Aufräumen übersehen hatte, aufgefallen.
*
Währenddessen begab sich auch Ruland Berging auf den Weg nach Weißach. Allerdings war sein erstes Ziel nicht die Rochuskapelle, sondern die ›Todeshöhle‹, wie er das fantastische Tropfsteingebilde, in dem er Lodewig vergangene Nacht zurückgelassen hatte, jetzt höhnisch nannte.
Da er ihm die Hände nur mit seinem Schneuztuch auf dem Rücken zusammengebunden hatte und dieses für einen Mundknebel nicht mehr ausgereicht hatte, befürchtete er, sein mit einem Strick an einen Stalagmiten gebundenes Opfer hatte sich selbst befreien oder nach Hilfe rufen können. Da in der Nähe der
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