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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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aus Hanf ausgewählt, weil diese die höchste Festigkeit garantierten, wodurch er dünnere Seile hatte verwenden können. Dass Biesles Seile hielten, hatte schon der Henker bei der Hinrichtung des Arztes Heinrich Schwartz recht eindrucksvoll demonstriert. Der Medicus hatte wochenlang bei Wind und Wetter am Galgen gebaumelt, ohne dass der Strick gerissen war.
    »Qualität überlebt«, hatte der betagte Seiler nicht ganz treffend zu Ruland Berging gesagt, als dieser den Strick bei ihm gekauft und über den hohen Preis gezetert hatte. Ein makabrer Spruch angesichts dessen, was für eine Rolle einer seiner Stricke im Falle des erhängten Arztes gespielt hatte … und noch für Lodewig spielen sollte.
    Durch seine Technik hatte der Totengräber – nachdem er den inzwischen total Erschöpften auf die nun genau in der Mitte platzierte Kirchenbank gesetzt hatte – die Seile nach und nach ganz genau so stramm anziehen können, dass Lodewigs Gesäß die Armablage der Kirchenbank gerade noch hatte berühren können. Aber erst als Lodewigs Arme bis zum Zerreißen gestreckt waren, hatte er die Seilenden an den Seitenteilen der Kirchenbank angebunden.
     
    *
     
    Inzwischen war das Blut der Wunden in Lodewigs Gesicht, auf seinem Körper, auf den Resten seiner Gewandung und auf dem Boden längst zu schwarzen Flecken erstarrt.
    Er saß jetzt schon den zweiten Tag mitten im Chorraum der Weißacher Pestkapelle auf einer wackeligen Kirchenbank – aber nicht dort, wo sich ansonsten die Gläubigen bei der Predigt oder während der Kommunionausteilung demütig niederließen, sondern dort, wo sie bei der Wandlung oder beim Agnus Dei ihre zum Gebet gefalteten Hände auflegten, während sie knieten.
    Lodewig blieb nichts anderes übrig, als kerzengerade zu sitzen, obwohl die von Schnitzerhand geformte Armablage immer stärker auf seinen Steiß drückte, zudem sein Rückgrat höllisch brannte und er zunehmend kraftlos wurde. Um nicht nach vorne zu kippen, musste er ständig darauf bedacht sein, den Kopf nicht hängen zu lassen. Da Lodewig die vom Totengräber selbstkreierte Foltermethode nicht kannte und die Abstände zwischen der Armablage der Kirchenbank und dem Boden nicht abschätzen konnte, glaubte er, sofort des Todes zu sein, wenn er herunterfallen würde. Deswegen kämpfte er mit aller Macht gegen die fast schon übermächtige Müdigkeit an. Er durfte auf keinen Fall einschlafen. Obwohl ihm klar war, dass die Menschen den Pestfriedhof mieden und sich immer noch niemand hierhertrauen würde, auch wenn die Pest in Staufen ausgestorben wäre, gab er die Hoffnung auf Rettung noch nicht ganz auf, starrte dennoch ängstlich auf die Treppenstufe unter sich.
     
    Auch wenn er es selbst vielleicht nicht mehr mitbekäme, freute sich der Totengräber jetzt schon darauf, dass Lodewigs Kräfte endgültig schwinden und dessen Körper nach vorne von der Bank herunterkippen würde.
    Wenn es so weit ist, wird die Bank nach hinten wegrutschen und der Bursche wird knapp über dem Boden unter der Treppenstufe in der Luft hängen. weil seine Zehenspitzen keinen Halt auf dem Boden finden, freute sich der ekelhafte Unhold, während er im Propsteigebäude hastig seine Sachen zusammenpackte. Diese Situation würde Lodewig tatsächlich einen baldigen Tod bescheren. Aber das sah Ruland Bergings heimtückischer Plan nicht vor.
    Vielmehr sollen Lodewigs Füße den Boden nur leicht berühren, wenn er von der Kirchenbank heruntergefallen ist. Und dann muss er sich erst noch beide Schultergelenke ausgekugelt haben, damit die Arme länger und länger werden und dadurch die Füße mehr und mehr den Boden berühren können. Nur dann ist es vielleicht möglich, dass er noch ein oder zwei Tage lebt, bevor er elendiglich verreckt, hatte sich der zum Henker avancierte Totengräber beim Austüfteln dieser perfiden Grausamkeit gedacht.
    Bevor er aus der Pestkapelle verschwunden war, hatte er Lodewig noch so viel Wasser eingetrichtert, wie in ihn hineingepasst hatte. »Du sollst nicht gleich verdursten, sondern noch möglichst lange leben. Behalte die Flüssigkeit also in dir und versau hier nicht den Boden. Falls ich noch mal kommen sollte, werden wir erst richtig Freude aneinander haben«, hatte er gedroht, bevor er die Kapelle endgültig verlassen und hinter sich zugeschlossen hatte.
    Lodewig hatte nicht gewusst, was mehr schmerzte: seine vielen Wunden und Blessuren oder das grässlich hallende Geräusch des sich im Schloss drehenden Schlüssels. Einen Moment später

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