Der Peststurm
ans Fenster und rief. Niemand antwortete. Als er ein merkwürdig quer hängendes Seil sah, änderte er seinen Blickwinkel und entdeckte den leblosen Körper, der rücklings zu ihm, in sich zusammengesackt, an zwei Seilen hing. Fabio erschrak zwar, überlegte aber nicht lange, kletterte wieder hinunter und holte die Schaufel, um damit die Fensterscheibe einschlagen zu können.
Das Einsteigen und Hinunterhangeln ins Innere der Kapelle bereitete ihm – bis auf ein paar kleinere Schnitte und Schürfwunden, die er sich an Armen und Beinen zuzog – keine nennenswerten Probleme. Unten angekommen, stellte er entsetzt fest, dass es sich um den mittleren Sohn des gräflichen Schlossverwalters handelte, der augenscheinlich gefoltert worden war.
»Um Gottes willen«, entfuhr es Fabio zum ersten Mal in seinem Leben, obwohl er wusste, dass das, was er jetzt sah, nicht Gottes Wille sein konnte.
Fabio glaubte zwar, dass der etwa gleichaltrige Sohn des Kastellans tot war, klatschte ihm dennoch mehrmals leicht auf die Wangen.
»Junger Herr! Wacht auf«, flehte er den Schwerverletzten an.
Lodewig erwachte zwar nicht aus seiner Besinnungslosigkeit, gab aber wenigstens ein paar Zuckungen von sich.
»Dem heiligen Nikolaus von Myra sei Dank. Ihr lebt«, bemühte Fabio jetzt den Schutzheiligen der Diebe, von dessen Existenz er erst gestern durch Propst Glatt in Kenntnis gesetzt worden war.
Innerlich jubilierte er und versuchte, die Knoten der Seile zu lösen. Da sich der raue Hanf durch Lodewigs Gewicht und den Ruck beim Herunterfallen von der Kirchenbank tief in dessen Armgelenke geschnitten und ihm bis zu den Handwurzeln Haut und Fleisch abgezogen hatte, traute sich Fabio letztlich doch nicht, die Knoten zu lösen. Hastig sah er sich um und eilte geistesgegenwärtig zur Tür, um Hilfe zu holen.
Ich brauche etwas zum Schneiden, dachte er und hoffte, sich beim nächstgelegenen Bauernhof ein Messer ausleihen zu können.
Aber er kam nicht aus der Kapelle heraus. Die Tür war verschlossen und ließ sich auch nicht öffnen, als er mit aller Kraft an der Klinke rüttelte und sich dagegenstemmte. Dafür fiel die Werkzeugtasche des Totengräbers, die noch an der Türklinke hing, auf den Boden.
»Gut«, entfuhr es Fabio wieder, als er sie öffnete und den Inhalt sah, meinte damit aber auch den zweiten verlorenen Heller, den er ebenfalls erblickt und mit aufgehoben hatte, bevor er ihn küsste und einsteckte.
Hier ist alles drin, was ich brauche. Aber zuerst muss ich diese verdammte Tür öffnen. Er überlegte, wie er dies zustande bringen könnte, und kam auf den Gedanken, sich von den Heiligen helfen zu lassen. Er schnappte sich den sowieso schon ramponierten Korpus des hölzernen Rochus und schlug ihn mit aller Kraft so oft gegen das Schloss, bis die Tür nach außen aufsprang.
»Dass ihr Heiligen immer mit dem Kopf durch die Wand müsst«, lästerte er, während er einen Augenaufschlag lang sein gelungenes Werk betrachtete.
Nachdem er die Seile in sicherem Abstand von Lodewigs Armgelenken abgeschnitten hatte, hing der junge Herr schlaff in seinen Armen. Da es draußen trotz dieser Jahres- und Tageszeit angenehmer als in der feuchtkalten Kapelle war, trug Fabio den regungslosen Körper hinaus und legte ihn an einem Plätzchen, das noch vor Kurzem von der Sonne erwärmt worden und deswegen schneefrei war, ins Gras.
Lodewigs Retter hastete in die Kapelle zurück und holte den Wasserkrug, der zusammen mit ein paar von Mäusen angenagten Scheiben vertrockneten Brotes immer noch wie eine Opfergabe mitten im Raum stand. Er riss sich wieder ein Stück von seiner Jacke und tunkte den verdreckten Stoff in den Krug, um die lebensspendende Flüssigkeit tropfenweise in Lodewigs Mund zu drücken und ihm damit die Lippen und die Stirn zu befeuchten und abzutupfen. Fabio war froh, dass Lodewig nichts spürte und er ihm deshalb auch noch das verkrustete Blut aus dem Gesicht und vor allen Dingen von den verklebten Augen waschen konnte. Als er mit dem kühlen Lappen dessen Genick vom mit Dreck und Blut verkrusteten Schweiß befreien wollte, stöhnte Lodewig. Fabio wusste zwar nicht, ob es ein Ausdruck von Schmerz oder ein Anflug von Wohlbefinden war, freute sich aber über ein weiteres Lebenszeichen seines Patienten, der für einen Moment die Augen öffnete und es sogar schaffte, etwas Wasser über seine aufgeplatzten Lippen und durch seine ausgetrocknete Kehle rinnen zu lassen, bevor ihn der übermächtige Schmerz in beiden Schultern wieder
Weitere Kostenlose Bücher