Der Peststurm
der Bauer auch ohne sie kaum schafften, das Gefährt den steilen Buckel hochzubringen, legte sie sich neben Lodewig und begann, haltlos zu weinen. Immer wieder sagte sie ihm, dass sie ihn liebe und dass er um ihres Kindes willen leben müsse. Dabei kuschelte sie sich so sanft an ihn, als wenn sie nach dem seit ihrer Vermählung zur lieben Gewohnheit gewordenen Gute-Nacht-Küsschen mit ihm einschlafen wollte.
Mit Sarah als zusätzlicher Ladung war es Fabio und dem Bauern kaum noch möglich, das schwere Gefährt weiterzubewegen. Nur gut, dass mittlerweile auch die beiden Wachen beim Karren angekommen waren. Siegbert schob Fabio beiseite und schnappte sich eine der Zugstangen, während Rudolph dem Bauern beim Schieben half.
Als der Trupp an die große Biegung kam, waren auch die anderen da. Nur Konstanze blieb auf halbem Weg stehen. Sie traute sich nicht weiter. Sie könnte es nicht ertragen, vielleicht das sehen zu müssen, vor dem sie sich seit Tagen gefürchtet hatte. Wie angewurzelt wartete sie auf den Leichenwagen, auf dem ihr noch lebender Sohn lag – ihr wahrhaft lebendiger Sohn! Sie wollte ihm jetzt doch noch entgegenlaufen, aber ihre Beine versagten den Dienst. Sie zitterte … und betete. Zu mehr war sie im Augenblick nicht imstande.
Sarah küsste Lodewig zart auf den Mund und hauchte ihn immer wieder so an, als wenn sie ihm Leben einhauchen wollte. »Bitte«, schluchzte sie und erkannte dankbar, dass ihr geliebter Mann für den Bruchteil eines Augenaufschlags das Weiß der Augäpfel zeigte, so als wolle er ihr mitteilen, dass sie sich nicht um sein Leben sorgen müsse. Sarah glaubte sogar, den Anflug eines leisen Lächelns zu erkennen.
»Er hat mich angeschaut«, rief sie fassungslos und begann vor Glück zu weinen.
»Schneller! Er muss sofort behandelt werden«, drängte Nepomuk zur Eile und bat Rosalinde, die immer noch das Kind auf dem Arm hatte, vorauszueilen und sofort zwei Töpfe Wasser aufzusetzen.
»Und du, Ignaz, kannst Lodewigs Lagerstatt herrichten. Sag der Herrin, dass sie Leintücher holen und in kleine, ellenlange Fetzen zerreißen soll.«
Der Mönch wollte Konstanze damit ablenken. Sie sollte ihren Sohn erst zu Gesicht bekommen, wenn er ihn würde verarztet haben und er nicht mehr ganz so schlimm aussähe.
Als die beiden an ihrer Herrin vorbeikamen, konnte es Rosalinde nicht lassen, sie kurz zu umarmen und ihr ins Ohr zu flüstern, dass Lodewig tatsächlich lebte. Jetzt war es Konstanze, die Rosalinde lange und innig umhalste, bis Ignaz sanft ihre Arme herunternahm. Dabei sagte er ihr, dass er und Rosalinde schleunigst ins Schloss müssten, um Wasser zu kochen.
»Geht zu ihm, werte Frau. Er braucht Euch«, empfahl Ignaz, obwohl der Mönch etwas anderes befohlen hatte. Dadurch löste er die Bewegungsstarre seiner Herrin, die es jetzt endlich vermochte, dem Karren entgegenzulaufen. Noch bevor sie dort angekommen war und Lodewig sah, rief ihr Nepomuk beruhigend entgegen, dass alles schlimmer aussähe als es sei und er Lodewig mit Gottes Hilfe wieder hinbekommen würde.
»Außerdem ist Eginhard bald hier. Er wird mir dann helfen, Lodewigs Wunden zu heilen«, tröstete Nepomuk die besorgte Mutter, obwohl er sich ganz und gar nicht sicher war, dass sie es tatsächlich schaffen würden, Lodewigs Leben, das an einem sehr sehr dünnen seidenen Faden hing, zu retten.
Kapitel 57
Obwohl hundemüde, konnte er nicht einschlafen und wälzte sich stattdessen unruhig auf seinem Lager. Die vielen ungewohnten Geräusche in der Herberge irritierten Ulrich Dreyling von Wagrain. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, was ihm aber nicht so recht gelang. Zu viele Eindrücke hatte er zu verarbeiten. Das verantwortungsbewusste Familienoberhaupt musste immer wieder an Lodewig und daran denken, dass er eigentlich zu Hause sein sollte, um Konstanze und den anderen Familienmitgliedern beizustehen. Täte er dies, würde er allerdings riskieren, niemals zu erfahren, was mit seinem Sohn geschehen war, und sich womöglich an dessen Tod mitschuldig machen. Nein, dies konnte er nicht zulassen! Eine bisher ungekannte innere Unruhe packte ihn. Gerade jetzt, allein in dieser unwirtlichen Kammer, spürte er die innige Verbundenheit zu den Seinen ganz besonders und sah plötzlich klar vor sich, was er tun musste – insbesondere, weil ihm auch das Gespräch, das er am Abend mit dem wie aus dem Nichts aufgetauchten Fremden geführt hatte, nicht aus dem Kopf ging und ihn kaum zur Ruhe kommen ließ. Die
Weitere Kostenlose Bücher