Der Peststurm
verkneifen.
*
Die Kirchenglocke verkündete gerade die siebente Stunde und es war jetzt stockdunkel, als Rudolph den Wehrgang entlang zur Treppe hastete, um möglichst schnell zum Vogteigebäude zu kommen. Wie wild hämmerte er an die Tür und rief aufgeregt nach dem Mönch: »Bruder Nepomuk! … Kommt schnell und seht!«
»Was gibt es zu sehen?«, drang die tiefe Stimme des Benediktiners durch die geschlossene Tür nach draußen.
»Da kommen zwei Männer mit einem Karren.«
»Ja, und?«, knurrte der schlaftrunkene Mönch, der sich nur ungern aus der wohlverdienten Ruhe reißen ließ.
Rudolph blickte dem merkwürdigen Gefährt so lange konzentriert entgegen, bis er glaubte, im Flackern der beiden Lichter schemenhaft eine Gestalt liegen zu sehen.
»Ich … ich glaube … , da liegt jemand auf dem Karren«, rief er aufgeregt und trieb dadurch nicht nur den Mönch zur Eile an.
Durch Rudolphs Geschrei bekam auch Konstanze mit, was der Grund für die Aufregung war. »Lodewig?«, murmelte sie mehr unsicher als hoffnungsvoll und blickte Sarah fragend an, bevor sie beide gleichzeitig laut seinen Namen riefen. Während sie zusammen mit Bruder Nepomuk nach draußen eilten, bat der Mönch sie rein vorsorglich, nicht enttäuscht zu sein, falls es nicht Lodewig sein sollte.
Inzwischen hatte Rudolph das Tor geöffnet. Da die Aufregung auch bis zum Gesinde vorgedrungen war, hatten sich alle Schlossbewohner versammelt und standen jetzt ebenso ängstlich wie hoffnungsvoll vor dem sperrangelweit geöffneten Tor.
»Ihr bleibt hier! Wir müssen vorsichtig sein«, kam es Nepomuk jetzt erst in den Sinn, weswegen er es auch gleich aussprach, »vielleicht liegt ein ›Pestischer‹ auf dem Wagen. Oder es ist eine Finte gewiefter Halunken … Jedenfalls müssen wir gewärtig sein, das Tor schnell wieder schließen zu können«, gab er, quasi in Vertretung des Kastellans, zu bedenken und schob diejenigen, die das Schlosstor beim schnellen Schließen blockieren könnten, mehr oder weniger unsanft beiseite.
Rosalinde legte ihren Kopf an Ignaz’ Schulter. Siegbert hatte sich zu Rudolph gesellt, um mit ihm zusammen das Tor im Griff zu haben, wenn es notwendig werden sollte. Die drei Frauen standen eng beieinander. Judith hatte Lea auf dem Arm, während Sarah ihren Säugling schlafen ließ. Die Anspannung war förmlich zu spüren. Konstanze hatte die Hände gefaltet und betete laut zu Gott, dass es tatsächlich ihr Sohn sein möge, der da auf dem Wagen lag, … und dass er lebte.
Sarah erkannte Fabio als Erste. Jetzt hielt sie auch Nepomuks Warnung nicht mehr davon ab, dem ungewöhnlichen Zug entgegenzurennen. Wenn Fabio einen Pesttoten auf dem Karren hätte, käme er damit sicher nicht ins Schloss, dachte sie.
Siegbert stieß Rudolph mit seinem Ellbogen an und deutete ihm dadurch, dass auch sie dem Karren entgegenlaufen sollten, um zu helfen. Als Sarah dem Gefährt näher kam, rief Fabio ihr entgegen, dass sie Lodewig auf dem Wagen hatten und dass er lebte.
Er lebt?, schoss es ihr kreuz und quer durch den Kopf. »Ja! Er lebt«, rief Sarah den anderen zu, die jetzt, bis auf Judith, die stehen blieb, losliefen.
»Er lebt«, sagte einer zum anderen. Diese knappe Aussage genügte im Moment, hatte sie doch so viel Aussagekraft, wozu in einem anderen Glücksfall drei Worte benötigt wurden.
Ignaz und Rosalinde umarmten sich, während der Mönch einen schnellen Dank zum Himmel hochschickte.
Sarah war als Erste beim Karren und erschrak zu Tode, als sie Lodewig in diesem erbärmlichen Zustand sah. Hastig rief sie nach Rosalinde und drückte ihr den Kleinen in die Hände, bevor sie auf die Ladefläche kletterte und sich neben ihn kniete. Sie wollte jetzt ganz nah bei ihrem geliebten Mann sein. Da sie nicht wusste, wie sie ihm helfen konnte, fuhr sie immer wieder über sein Gesicht, ohne es richtig zu berühren. Sie wollte Lodewig nicht weh tun. Nur an den wenigen Stellen, an denen die Haut nicht aufgerissen war, streichelte sie es sanft – nur einen kurzen Moment. Sie hob die Wolldecke und Fabios über und über verdrecktes Hemd an, das er auf Lodewig gelegt hatte, um ihn wenigstens etwas vor der Kälte zu schützen, und sah erst jetzt, dass Lodewigs ganzer Körper voller offener und blutverklebter Wunden, Flecken und Beulen war. Als sie nach seinen Händen greifen wollte, hielt sie der Bauer zurück und empfahl ihr, dies nicht zu tun.
Sarah konnte sich jedoch nun nicht mehr halten. Ungeachtet dessen, dass es Fabio und
Weitere Kostenlose Bücher