Der Peststurm
Erst nachdem der Kastellan das schnaubende Ross hatte beruhigen können, war auch er wieder zur Ruhe gekommen. Für den Schaden, der dabei angerichtet worden war, hatte er sich in aller Form entschuldigt und war schleunigst in die Stadt hineingeritten.
»Was ist los mit dir?«, hatte er mehr sich selbst als sein Pferd gefragt und festgestellt, dass es mit der inneren Ausgeglichenheit von Ross und Reiter wohl nicht mehr zum Besten stand. Er hatte gespürt, dass es höchste Zeit war, nach Hause zurückzukehren. Zuvor aber wollte er nichts unversucht lassen, um doch noch des Totengräbers habhaft zu werden.
*
Ulrich Dreyling von Wagrain hatte sich jetzt schon über zwei Stunden intensiv zum ›Tiroler‹ durchgefragt und dabei nie versäumt, sich nebenbei auch nach dem Totengräber zu erkundigen. Dabei hatte er sich sogar den Unmut einiger angesehener Bürger zugezogen. Es hatte den Anschein, als wenn sie mit dem Menschenschacherer zwar nichts zu tun haben wollten, auf dessen Dienste aber nicht verzichten mochten. Jedenfalls gelangte der Kastellan zu dieser Meinung, hatte ansonsten aber nichts Konkretes über den ›Tiroler‹ in Erfahrung bringen können. Immerhin hatte ihm ein betucht wirkender Bürger berichtet, dass er heute früh einen Mann mit einem Schimmel gesehen habe. Ob der Reiter allerdings schwarz gewandet war und einen Bart getragen habe, hatte er nicht sagen können, weil sein Blick von der Schönheit des weißen Pferdes und des südländisch aussehenden Geschirrs gefangen gewesen war. Wenigstens hatte er noch zu berichten gewusst, dass es in ganz Ravensburg kein derartiges Pferd gab und es wohl einem Fremden gehören musste. Dies ließ den Kastellan erneut hoffen, dass der Totengräber tatsächlich in Ravensburg war.
Als er eine kurze Pause einlegte und sich über den Stadtbrunnen beugte, um ein paar Hände voll Wasser zu schlürfen und sich danach mit den nassen Händen mehrmals aufs Gesicht zu klatschen, wurde er gefragt, ob dies nicht schmerzen würde.
Der Kastellan hob den Kopf und blickte zur Seite. Er sah den Bettler von vorhin, dessen breites Grinsen einen Haufen silbern glänzender Zähne freigab. Dies veranlasste ihn, sich zu schütteln und sich auch noch den Mund auszuspülen, bevor er sich bei ihm für das Verhalten seines Pferdes entschuldigte und ihn fragte, wie das eben Gesagte gemeint wäre.
»Na ja! Ich habe nicht gewusst, dass man sich mit Wasser auch waschen kann!«
Über diese Aussage musste der Kastellan zwar schmunzeln, sah aber schon die offene Handfläche des Bettlers, der eine Belohnung für sein Späßchen erwartete.
Da sich der Kastellan ob des Geschehnisses beim Obertor und wegen des Scherzes nicht lumpen lassen wollte, zückte er seinen Geldbeutel und griff hinein, zog seine Hand aber sofort wieder zurück. »Wenn Ihr mir sagen könnt, wo ich einen Mann finde, der Kindern bezahlte Arbeit vermittelt, könnt Ihr bald einen neuen Zahn aus Silber herstellen lassen.«
Sofort verschloss der Bettler – wie er es immer zu tun pflegte, wenn er seinem unehrenhaften Handwerk nachging – seinen Mund und zischte zwischen seinen Zähnen hervor: »Von wegen bezahlte Arbeit. Wenn hier einer bezahlt wird, dann ist es derjenige, der die Arbeit vermittelt, nicht aber die bedauernswerten Kinder«, gab er schlecht verständlich zur Antwort und spuckte neben den Brunnen. Dann fragte er in einem Ton, als wäre es das Normalste auf der Welt: »Du suchst wohl den ›Tiroler‹?«
Dies hatte der Kastellan nicht erwartet und musste es erst verdauen, bevor er sich wieder dem Bettler zuwandte und in fast uninteressiert klingendem Ton sagte: »Ja, genau! Den suche ich, … kennt Ihr ihn, mein Herr?«
Da es der Bettler nicht gewohnt war, in dieser respektvollen Form angesprochen zu werden, wurde er verlegen und nestelte an seiner schmutzigen Rupfengewandung herum, bevor er – wie er es gewohnt war – in kumpelhafter Form antwortete: »Selbstverständlich weiß ich, wo du den ›Tiroler‹ finden kannst!«
Ulrich Dreyling von Wagrain war erleichtert, seinem Ziel endlich näher zu sein und über den ›Tiroler‹ vielleicht doch noch an Ruland Berging herankommen zu können. Er müsste es dann nur geschickt anstellen, den Kinderhändler nicht merken zu lassen, was er von ihm hielt und was er vom Totengräber wollte. Ab jetzt hieß es, besonders wachsam zu sein.
»Führt mich zu ihm und Ihr bekommt fünf Heller«, schlug der Kastellan hastig vor und glaubte, dabei mehr als
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