Der Peststurm
anmutende Neuerung gesehen, geschweige denn, dass er diese vom Hauptmann der Feuerknechte hatte testen lassen können. So ließ er in mehr oder weniger bewährter Manier über 40 der alten Lederkübel mit Wasser füllen und rund um den Platz aufstellen. Hinter jedem Wasserkübel postierte er einen Mann. Die Immenstädter Bürger wussten aus leidiger Erfahrung, wie gefährlich eine Feuersbrunst war, und konnten sich noch gut an die letzten Brände erinnern. Ganz besonders war ihnen dabei der Brand des Pfarrhofes im Jahre 1619 sowie des Spitales und der gesamten Unterstadt sieben Jahre darauf im Gedächtnis geblieben. Sie wussten, wie schnell sich ein wütendes Feuer verbreitete und wie sie sich einigermaßen dagegen schützen konnten.
Sie wussten aber nicht, wie sich ein fachgerecht gezündetes und koordiniertes Feuerspiel verhielt. Dass schon in den Naturreligionen 6000 Jahre vor Christus mit Arsenschwefel, Schwefelantimon und Natriumverbindungen pyrotechnisches Feuerspiel veranstaltet worden war und dass der Venezianer Marco Polo um 1230 nach Christi Geburt die ersten kultivierten Feuerwerke aus dem fernen China nach Europa gebracht hatte, davon hatten die unbedarften Menschen ebenso wenig Kenntnis wie vom Wirken des sonderlichen Freiburger Mönchs Berthold Schwarz, der im 14. Jahrhundert hatte Gold herstellen wollen und stattdessen zufällig das Schießpulver erfand, weil er sein Gemisch aus vielerlei chemischen Verbindungen dummerweise an eine Kerze gehalten hatte, um es näher betrachten zu können. Ob das Pulver nach dem Namen seines Erfinders oder nach dessen verkohltem Gesicht benannt worden war, wusste ebenfalls niemand mehr. Während der Name Berthold Schwarz selbst nahezu unbekannt geblieben war, sollte das, was er der Nachwelt hinterlassen hatte, von großem Nutzen für die Kriegsmaschinerie sein und würde auch seinen Teil zum Feuerspiel beitragen. Das Ganze hatte sich bis jetzt zur Blütezeit des Feuerwerks in Europa entwickelt. In den großen Städten gab es öfter derartige Inszenierungen und aufwendige Illuminationen als hier im ländlichen Allgäu. Deswegen kamen die Menschen kaum in den Genuss dieses Erlebnisses und verstanden auch nichts davon, weswegen sie alles Mögliche in dieses Teufelswerk hineinmystifizierten und respektvoll Abstand hielten.
So verkörperte für sie eine zunächst aktive, knallende und blitzende, dann aber wie tot niedersinkende Rakete den Hochmut und den Fall, wogegen die kleinen hin und her schwirrenden Schwärmer einen unberechenbaren und ungerechten Tyrannen symbolisierten. Aus Kosten- und Sicherheitsgründen kam allerdings nicht allzu viel Höhenfeuerwerk, dafür aber umso mehr Bodenfeuerwerk zum Einsatz. Aber die niedrigen Effekte zeitigten auch ihre Wirkung auf die nicht nur diesbezüglich kaum verwöhnten Zuschauer, die aus nah und fern hierher gekommen waren.
Der Zeremonienmeister hatte große Mühe gehabt, die satten und angeheiterten Gäste des Grafen nach draußen auf den Marktplatz zu bemühen. Zu voll waren ihre Wänste, sodass sie sich nicht unnötig bewegen wollten. Aber jetzt sollte es losgehen, und der Graf würde höchstpersönlich ein Feuerwerk entzünden, wie er es seit seiner Hochzeit mit Prinzessin Maria Renata von Hohenzollern-Sigmaringen im September 1625 im Hohenzollernschloss Hechingen selbst nicht mehr gesehen hatte. Das komplette Trommlercorps der Immenstädter Kompanie war angetreten und stand als Spalier bereit. Als die feine Gesellschaft aus dem Schlossportal mehr oder weniger heraustorkelte, setzte dumpfer Trommelwirbel ein.
Da Feste an großen herrschaftlichen Höfen ohne Hofnarr undenkbar waren und auch der Graf bei seinen Lustbarkeiten nicht ganz darauf verzichten wollte, obwohl er sich keinen eigenen Belustiger leistete, wurde bei solchen Gelegenheiten immer improvisiert. So musste auch jetzt wieder einmal der Butz herhalten. Auf Geheiß des Oberamtmannes hatte die ansonsten ganz in Weiß gewandete Fasnachtsfigur die Rolle des Hofnarren übernommen.
Diese Doppelfunktion gefiel jedem jungen Burschen, der in diese Rolle schlüpfen durfte. Da dieses Amt verhältnismäßig einträglich war, wurde dafür traditionsgemäß von den ledigen Burschen der Stadt alljährlich einer von ihnen – der allerdings zu den Bedürftigsten der Stadt gehören musste – dafür ausgewählt. Der Butz lebte meist mitten unter den Ärmsten der Armen, die ihre Behausungen in den Nischen entlang der Stadtmauer hatten und die eingelassenen Mauerbögen
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