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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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im Voraus verstand sich hierbei von selbst.
     
    »Heute ist ein ganz besonderer Tag«, sagte Schwester Bonifatia nach dem Morgengebet zu Martius Nordheim, nachdem sie festgestellt hatte, dass es in einem Fall Hoffnung zu geben schien. Die Krankenschwester und der Kanoniker hatten vor drei Tagen einer jungen Patientin die Pestbeulen unter einer Achselhöhle aufgeschnitten und sie lebte noch immer. Egal, ob sich die Pestbeulen in der Leiste, hinter den Ohren oder unter den Achseln befanden: wenn sie so groß wie Hühnereier waren, konnten, vielmehr mussten sie aufgeschnitten und ausgedrückt werden. Dies ging aber nur, wenn sich genügend Eiter angesammelt hatte und die Beulen weich waren. Die betreffenden Personen kamen dabei zwar nicht umhin, übermenschliche Schmerzen aushalten zu müssen, verspürten aber kurz darauf etwas Linderung.
    »Man muss das Schmatzen des Todes hören. Erst wenn ich ihn in meinen Händen halte oder er in einer Schale liegt, besteht die Möglichkeit des Überlebens«, pflegte die Schwester jedes Mal, wenn sie erfolgreich an aufgeschnittenen Pestbeulen herumgedrückt hatte, zu sagen.
    Bisher aber hatte der Tod trotz allem auch diese Patienten innerhalb von längstens zwei oder drei Tagen nach dem Ausdrücken einer oder mehrerer Pestbeulen eingeholt. »Ja, ja: Tote reiten schnell«, war ein weiterer, irgendwoher übernommener Spruch von Bonifatia, wenn sie eine Leiche hinaustrugen.
     
    Lisbeth hieß die Erste, die Tage nach dem Ausdrücken ihrer Beulen immer noch lebte. Die Patienten hatten zwar alle dieselbe Krankheit, die sich aber – je nachdem, wann sie ausgebrochen war – in unterschiedlichen Stadien befand. Während einige erst vor Kurzem infiziert worden waren und dementsprechend nur Kopfschmerzen und die Hitze hatten, jammerten und wimmerten andere, denen die krankhaften Veränderungen in Form von schwarzen Flecken schon zuzusetzen begannen. Vier solcher Patienten schrien schon den ganzen Tag vor rasenden Schmerzen. Sie waren nur still, wenn sie zwischendurch das Bewusstsein verloren.
    Sobald sie erwachten, waren die unerträglichen Schmerzen wieder da und sie begannen sofort wieder, laut zu schreien. Schwester Bonifatia wollte ihnen gerne helfen, musste aber warten, bis die Beulen die richtige Größe zum Aufschneiden hatten, damit sie die schlechten Körpersäfte herausdrücken und die stinkenden Wunden mit Essig reinigen konnte, bevor sie Kräuterumschläge darauflegte.
    Ständig veränderten sich die Geschwüre, die manchmal nur so klein wie Kirschkerne, ein anderes Mal so groß wie ein Apfel sein konnten.
    Der Körper eines dieser Patienten wies nur kleine Beulen auf, die nicht aufgeschnitten werden konnten. Er beendete sein irdisches Dasein, bevor ihm auch nur der Hauch einer Linderung zuteilwerden konnte. Die Schwester und der Kanoniker arbeiteten bis zum Umfallen und gönnten sich nachts abwechselnd nur ein paar Stunden Schlaf, den sie wegen des ständigen erbärmlichen Geschreis und Gejammers trotz Übermüdung kaum bekamen.
    Morgen würde die Schwester zum Propst gehen und ihn um Unterstützung bitten. Da sie dringend einen zusätzlichen Helfer benötigte, würde sie sich nicht zu schade sein, sich notfalls bei ihrem Bruder im Herrn zu entschuldigen. Zuvor aber würde sie zusammen mit dem Kanoniker den letzten Toten dort ablegen müssen, wo ihn Fabio gleich morgen früh würde finden können. Sie legten die schlaffen Körper immer in den kleinen Schuppen etwas abseits des Spitals. Die Schwester sah darin die Vorteile, dass die Toten die Lebenden nicht mehr anstecken konnten und dass Fabio nicht von den Lebenden angesteckt werden konnte, weil er nicht ins Spital hineinmusste. Ob dieser Gedanke richtig war, wusste sie nicht so genau. Aber mit Gottes Hilfe würde es auch weiterhin klappen. Und damit sie den derzeit überbeschäftigten Herrgott zu ihren Pesttoten in den Schuppen locken konnte, brannten dort ständig Kerzen. Außerdem gelobte sie, genau an dieser, zu Füßen des Kapfberges gelegenen Stelle, eine kleine Kapelle zu errichten … falls sie das Ende der um sich schlagenden Seuche erleben sollte.
     
    Es war spät in der Nacht, als sich die Schwester zu ihrem bescheidenen Lager aufmachte. Auf dem Weg dorthin kam sie am Gebetsraum vorbei und gönnte sich noch ein paar Minuten der inneren Einkehr. Sie bat ihren Schöpfer darum, dem Mädchen, das jetzt schon den vierten Tag überlebt und bei dem sie die Beulen längst ausgedrückt hatte, weiterhin die nötige Kraft

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