Der Peststurm
noch möglich. Dazu kam noch, dass sie gar nicht so viele Leinentücher auftreiben konnte, wie sie benötigte. Wäre nicht der Blaufärber gekommen und hätte ihr mehrere Ballen Leinenzeug gespendet, wäre die Lage sowieso hoffnungslos geworden. Allein die karitative Geste des Blaufärbers und sein Mut hierherzukommen, hatte die Schwester wieder etwas aufgerichtet. So schaffte sie es immer aufs Neue, jene Toten, die eine einigermaßen brauchbare Gewandung anhatten, zu entkleiden und die verdreckten Stoffe zuerst in gelöschtem Kalk zu desinfizieren, bevor sie gewaschen wurden. Auch diese unangenehme Arbeit teilte sie sich mit dem Kanoniker. Sie entkleidete die Frauen, während er es ihr mit den Männern gleichtat, obwohl sie zum Wäschewaschen viel zu wenig Zeit erübrigen konnten. So türmten sich die tagtäglich dringend benötigten Gewandungen der Toten hinter dem Spital oder lagen viel zu lange in den Kalkwannen – manchmal so lange, bis sie vom Kalk zerfressen und dadurch nicht mehr brauchbar waren.
Die beiden barmherzigen Samariter wären jeden Tag nahe daran zu verzweifeln, wenn ihnen der Herrgott nicht die nötige Kraft für ihre aufopferungsvolle Arbeit gegeben hätte. Obwohl sie wussten, dass die Pest keine göttliche Heimsuchung, sondern ein medizinisches Phänomen war, beteten sie jeden Tag zum Herrn über Leben und Tod. Es war jetzt Ende August und insgesamt waren in Staufen schon fast 300 Menschen der Pest erlegen, 109 davon im Spital.
Bisher hatten alle, die hier eingeliefert worden oder aus eigenem Antrieb gekommen waren, das Spital liegend, mit den Füßen voraus, verlassen.
»Warum sollte der himmlische Vater unsere Gebete jetzt plötzlich erhören?«, fragte Bonifatia den Kanoniker, als sie wieder einmal nahe daran waren zu verzweifeln.
»Warum nicht?«, kam die Antwort angesichts der schier unglaublichen Tatsache, dass es schon über zwei Wochen her war, dass sie einer jungen Frau die Beulen ausgedrückt und sich darüber gewundert hatten, dass sie tags darauf und zwei Tage später immer noch dem Tod getrotzt hatte. Da das Mädchen nach wie vor lebte, war sogar die Franziskanerin geneigt, an ein Wunder zu glauben. Die Genesende war zwar noch schwach, erholte sich aber von Tag zu Tag. Aus Dankbarkeit für ihre Heilung versprach Lisbeth, wie das Mädchen hieß, im Spital mitzuhelfen, sobald ihre alten Kräfte zurückgekehrt waren. Das überglückliche Geschöpf Gottes war dem Herrn und allen Heiligen dankbar und begab sich täglich in den kleinen Betraum, um ihre Dankbarkeit auszudrücken. Wie glücklich würde sie erst sein, wenn sie wüsste, dass sie ab jetzt mindestens für ein ganzes Jahr immun gegen die Pest war. Aber nicht nur sie, sondern auch Schwester Bonifatia und der Kanoniker waren überaus froh. Sie hatten jetzt nicht nur eine neue Helferin in Aussicht, die sich mit den Gewandungen der Toten, der Leintuchwäsche und der leidigen Putzerei beschäftigen würde, sondern es herrschte seit deren Heilung auch eine ganz andere Stimmung im Spital. Sie und die Kranken schöpften wieder etwas Hoffnung – bis die Pestilenz aufs Neue zuschlug.
Kapitel 20
An jenem Tag, an dem ihm der Bunte Jakob die Rosenkränze der Pestopfer abgekauft hatte, wollte der Totengräber wenigstens einen der Söhne des Kastellans zum Schweigen bringen. Da er aber noch vor der Umsetzung seines abscheulichen Planes dem Propst direkt in die Hände gelaufen war und ihm nicht mehr hatte ausweichen können, hatte er sich wohl oder übel die Zeit nehmen müssen, um von ihm neue Anweisungen entgegenzunehmen.
Außerdem war es schon längst überfällig, den Propst über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren. Der Kirchenmann führte über jeden einzelnen Pesttoten mehr oder weniger akribisch Buch und trug alle Verstorbenen in das ›Pfarrmatrikel‹ ein. Er benötigte deswegen stets umgehend Mitteilung über alle diesbezüglichen Neuigkeiten. Auch wenn sich der Seelsorger selbst schon längst nicht mehr in die Häuser traute, so wollte er den zu Hause Sterbenden wenigstens mit einem gewissen Sicherheitsabstand beistehen und ihnen Gottes Segen mit auf den Weg ins erhoffte Himmelreich geben. Diejenigen, die im Spital starben, wurden ja von seinem Kanoniker seelsorgerisch betreut.
Ruland Berging berichtete dem Propst, der schon lange nicht mehr auf den Pestfriedhof ging, dass alles seine beste Ordnung habe. »Ich«, betonte er, »ich und Fabio arbeiten bis zur Erschöpfung, um den Toten ein ordentliches
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