Der Peststurm
Patienten gewonnen werden konnte.
Nur wenn sie dieses Kreislaufsystem durchsetzen konnte, waren ihre Patienten bestmöglich geschützt. Aber das ging schon lange nicht mehr. Die Schwester und der Kanoniker hatten erkennen müssen, dass sie nicht mehr die Herrscher dieses Totenhauses waren, sondern nur noch Knechte der Pest … und deren Opfer. Dennoch versuchten sie, ihre Arbeit so gut es irgendwie ging zu verrichten. Um mit ihren Patienten so locker umgehen zu können, als wären es Badegäste der Kaisertherme im frühen Aachen oder des ›Caldariums‹ im ehemals römisch geprägten ›Cambodunum‹, der neben Trier ältesten Stadt Deutschlands, mussten sie alle Abscheu und jeden Ekel ablegen und sich eine dicke Haut zulegen. Die Angst vor dem eigenen Tod war ihnen Gott sei Dank längst abhandengekommen.
Aber nicht nur der direkte Umgang mit ihren Patienten machten Schwester Bonifatia und ihrem mittlerweile doch recht versiert gewordenen Mitstreiter Sorgen. Wie allen anderen Dorfbewohnern stellte sich auch ihnen tagtäglich die Frage der Nahrungsmittelbeschaffung. Würde da nicht der eine oder andere etwas Geld mitbringen, müssten im Staufner Spital sogar mehr Menschen Hungers als an der Pest sterben.
Heini, ihr im Geiste schwacher ehemaliger Helfer aus dem Siechenhaus, besorgte ihr bei Bauern in Genhofen und im nicht viel weiter entfernten Stiefenhofen all das, was sie für ihre Patienten benötigte und auch bezahlen konnte. Die Bauern aus dem westlichen Teil des Allgäus rückten allerdings – wenn überhaupt – Nahrungsmittel nur gegen unangemessen viel Geld heraus.
»Gott sei’s gepriesen, dass Heini geistig nicht ganz auf der Höhe ist«, dankte die Schwester dem lieben Gott fast jeden Tag.
Wäre Heini ganz Herr seines Geistes, würde er sich nie und nimmer in Richtung des pestverseuchten Staufen wagen. Die Schwester wusste, dass sie ein sehr hohes Risiko einging, da durch Heinis Besuche die große Gefahr bestand, dass auch er sich infizieren und die Pest aus Staufen hinaus nach Genhofen und von dort aus ins westliche Allgäu, das nicht mehr zum Herrschaftsgebiet des Grafen zu Königsegg gehörte, tragen könnte. Sie müsste sich ewig Vorwürfe machen, wenn es nach Staufen auch noch die kleinen Ortschaften um das Siechenhaus herum bis nach Harbatshofen hinaus treffen würde. Um auch hier das Risiko möglichst gering zu halten, durfte Heini nicht bis ganz nach Staufen hinein. Die Schwester kannte an der Straße, die ungefähr 250 Fuß unweit des Seelesgrabens verlief, den Heustadel, neben dem sich ein Sühnekreuz befand. Der Stadel stand weit genug vom Dorf entfernt.
Somit barg dieser Platz für Heini kaum Gefahr, sich zu infizieren, wenn er die von der Schwester georderten Waren dorthin brachte, um sie zu deponieren. Die Schwester selbst konnte sich ebenfalls einigermaßen sicher fühlen, wenn sie die dringend benötigten Sachen dort abholte. Meist sahen sie sich dabei nicht. Der eine lieferte tagsüber, die andere holte die Waren im Schutze der Dunkelheit. So einfach war das. Nur jeden Montag um das Mittagsläuten herum trafen sie sich persönlich, hielten aber einen großen Sicherheitsabstand, während die Schwester neue Bestellungen aufgab und Heini ihr aktuelle Ereignisse aus dem Siechenhaus erzählte. Niemals würden sie sich so nahe kommen, dass sich ihr Atem kreuzen könnte. Die Schwester achtete sorgsam darauf, dass – falls sie selbst schon das tödliche Bakterium in sich tragen sollte – wenigstens Heini unversehrt blieb. Sie wusste, dass sie von dem mutigen Burschen wie eine Heilige verehrt wurde, weswegen er alles für sie tat, um was sie ihn bat.
Es war ihr allerdings auch bewusst, dass sie ihn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen in Lebensgefahr würde bringen können – immerhin konnte der Heustadel jetzt auch ein verseuchter Ort sein.
»Hoffentlich kommt außer uns niemand hierher«, sagte sie besorgt. »Nicht, dass wegen mir sich auch noch Unbeteiligte infizieren.«
Aber zurzeit hatte sie ganz andere Sorgen. Es waren die zusätzlichen Tätigkeiten, die nicht direkt mit ihren Patienten zu tun hatten, die ihre Arbeit im Spital erschwerten: Allmorgendlich mussten die Räume gereinigt und akribisch mit Essig durchgewischt werden. Insbesondere die medizinischen Instrumente verlangten nach sorgfältiger Reinigung. War es anfänglich schon mühsam gewesen, die Fußböden mit streng riechendem Kalk zu schrubben, so war dies wegen der vielen Menschen, die jetzt überall herumlagen, kaum
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