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Der Peststurm

Der Peststurm

Titel: Der Peststurm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Wucherer
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jüngsten Sohnes erfährt, und sie wird noch genügend Gelegenheit haben, Diederich in ihre Gebete einzuschließen«, betonte er.
    Als Lodewig sah, dass sein Vater zustimmend nickte, holte er zwei Kerzen und nahm den mit Weihrauch gefüllten Kelch, um das Rauchfass zu füllen.
    Diesen kirchlichen Dienst hatte er in seiner Eigenschaft als Messdiener in der Staufner Pfarrkirche schon Hunderte Male mit Freuden verrichtet. Jetzt war dies anders. Lodewig wirkte apathisch. Sein Gesicht war wie versteinert. Nur das leichte Zittern der Unterlippe ließ seine innere Verfassung erkennen. Als er die Kerzen entzündete, spiegelte sich das Licht auf seinen tränennassen Wangen.
    »Können wir beginnen?«, fragte der Seelsorger leise und bekam vom Kastellan ein kaum merkliches Kopfnicken zur Antwort, was ihn dazu veranlasste, sich dem toten Knaben, der wie schlafend in den Armen seines Vaters lag, zuzuwenden.
    »Memento mori«, murmelte der Propst beschwörend, bevor er mit der Salbung begann. »Durch dieses heilige Sakrament helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen, er stehe dir bei mit der Kraft des Heiligen Geistes: Der Herr, der dich von Sünden befreit, rette dich, in seiner unendlichen Gnade richte er dich auf.«
    Der Priester nahm die Salbung nach tridentinischem Ritus vor und salbte alle Sinnesorgane des Kindes. Dabei berührte er mit dem Daumen Diederichs Augen und Ohren, den Mund und die Nase, die Hände und die Füße. Gerade in dem Moment, als der Propst dem Kleinen mit Chrisam ein Kreuz auf die Stirn zeichnete, damit er vom Himmel aus den ›Wohlgeruch Christi‹ würde verbreiten können, wehte ein Luftzug durch den Raum und löschte die beiden Kerzen. Alle Anwesenden erschraken und bekreuzigten sich hastig. Es folgte ein Moment der Stille, bevor sie gemeinsam ein stilles ›Vaterunser‹ beteten.
    Als sie damit fertig waren und der Priester den Segen Gottes erteilen wollte, hörten sie Konstanze, die mit schwacher Stimme fragte: »Ist da jemand?«
    Erschrocken sahen sich die Männer an, denn sie wussten momentan nicht, was schrecklicher war: Der Tod des jüngsten Familienmitgliedes oder es der kranken Mutter beibringen zu müssen. Sie beschlossen, dass der Vater mit dem priesterlichen Freund des Hauses zu ihr hineingehen und sie sanft vorbereiten sollte, während Lodewig mit Diederich auf dem Arm vor der Kammertür warten würde.
    »Und du … «, befahl der Kastellan dem Knecht noch vor dem Eintreten mit versteinerter Miene, »fertigst ein Holzkreuz an.«
    Ignaz räumte noch die Utensilien des Propstes zusammen und zündete die Kerzen wieder an, bevor er mit gesenktem Haupt die Küche verließ. Als er auf der Treppe war, hörte er einen markerschütternden Schrei seiner Herrin: »Wo ist mein Kind?«
    »Jetzt haben sie es ihr gesagt«, murmelte er, bekreuzigte sich und begann haltlos zu weinen.
     
    *
     
    Mittlerweile hatten auch die beiden Wachmänner Siegbert und Rudolph erfahren, was geschehen war. Die Schuld an dem Unglück sollte Rosalinde haben, die sich gerade in einem der Lagerräume aufhielt.
    Nicht nur, dass sie das Gartentor unverschlossen zurückgelassen hatte, nachdem sie die Kräuter geschnitten hatte, sie hatte es auch noch sperrangelweit offen stehen lassen. »Hätte sie es wenigstens ins Schloss fallen lassen, wäre der Kleine noch am Leben«, bildeten sie sich in ihrer Trübsal allzu schnell ihre Meinung.
    Sie waren heilfroh, nicht selbst in Verdacht geraten zu sein, Schuld an dem tragischen Unfall zu haben, weil der Schlüssel zum Gartentor verschwunden war.
    »Da kann ja jeder unbemerkt das Schlossgelände betreten und verlassen«, konstatierte Siegbert nachdenklich.
    »Aber nicht, ohne von uns Wachen gesehen zu werden«, entgegnete Rudolph, der sich angegriffen fühlte, energisch.
    »Du hast recht«, beruhigte ihn sein Kamerad, »… wenn jemand über den Kräutergarten nach außen gelangen möchte, müsste er zuvor über die Mauer klettern. Und dies geht nicht, ohne von einem von uns gesehen zu werden«, taten sie die Sache ab. Darauf, dass man ungesehen über die Südseite in den Wurzgarten gelangen konnte, kamen sie nicht.
     
    Nach mehreren Diskussionen und Ortsbesichtigungen, bei denen niemandem das eingetrocknete Blut an der Schlossmauer aufgefallen war, weil der Totengräber eine gute Arbeit hinterlassen hatte und somit die Mauer nicht in den Fokus der Untersuchung des Herganges geraten war, meinten alle einmütig, dass es zweifelsfrei ein tragischer Unfall gewesen sein musste.

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