Der Pfad der Winde - Sanderson, B: Pfad der Winde - The Way of Kings - The Stormlight Archive, Book 1 (Part 2)
verbarg die Augen, als ihn die Erinnerungen verzehrten. Ein junges Mädchen, ein zerschmetterter Schädel, ein gebrochenes Bein, ein wütender Vater.
Verzweiflung, Hass, Verlust, Enttäuschung, Entsetzen. Wie konnte ein Mensch so leben? Wie konnte jemand Arzt sein und weiterleben, obwohl er wusste, dass er zu schwach war, jeden seiner Patienten zu retten? Wenn andere Menschen versagten, dann steckten irgendwann die Würmer im Getreide. Wenn aber ein Arzt versagte, dann starb jemand.
Du musst lernen, wann du dich zu kümmern hast …
Als ob er die Wahl hätte! Er musste diese Gedanken verbannen, musste sie wie eine Laterne auslöschen. Kaladin krümmte sich unter dem Gewicht, das auf ihm lastete. Ich hätte ihn retten müssen, ich hätte ihn retten müssen, ich hätte ihn unbedingt retten müssen …
Kärtel, Dunni, Amark, Goschel, Dallet, Nalma. Tien.
»Kaladin«, sagte Syls Stimme. »Sei stark.«
»Wenn ich stark wäre«, zischte er, »dann würden sie noch leben.«
»Die anderen Brückenmänner brauchen dich noch. Du hast es ihnen versprochen, Kaladin. Du hast ihnen deinen Eid gegeben. «
Kaladin blickte auf. Die Brückenmänner schienen ängstlich und besorgt zu sein. Es waren nur acht; Kaladin hatte die anderen losgeschickt, nach verwundeten Brückenmännern aus anderen Mannschaften zu suchen. Bisher hatten sie drei gefunden; sie alle hatten kleinere Wunden empfangen, um die sich Narb kümmern konnte. Seitdem waren keine Läufer mehr zu ihm gekommen. Entweder gab es bei den anderen Brückenmannschaften
keine Verwundeten, oder ihnen war nicht mehr zu helfen.
Vielleicht hätte er selbst gehen und nachsehen sollen. Aber er war nicht mehr in der Lage, vor einen weiteren Sterbenden zu treten, dem er nicht helfen konnte. Er taumelte auf die Beine und ging von der Leiche weg. Er trat an die Kluft und zwang sich, die alte Haltung einzunehmen, die ihn Tukks gelehrt hatte. Die Beine gespreizt, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die Unterarme mit den Händen gepackt. Das vertraute Gefühl verlieh ihm Kraft.
Du hast Unrecht gehabt, Vater, dachte er. Du hast gesagt, ich werde es lernen, mit dem Tod umzugehen. Aber hier stehe ich nun zehn Jahre später und habe doch noch immer dieselben alten Schwierigkeiten.
Die Brückenmänner sammelten sich um ihn herum. Lopen kam mit einem Wasserschlauch herbei. Kaladin zögerte, doch dann nahm er den Schlauch entgegen und wusch sich Gesicht und Hände. Das warme Wasser platschte über seine Haut und brachte eine angenehme Kühle mit sich, während es verdunstete. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und nickte dem kleinen herdazianischen Mann dankbar zu.
Lopen hob eine Braue und deutete dann auf den Beutel, der an seiner Hüfte befestigt war. Er hatte wieder einen Beutel mit Kugeln geholt, der an einem Pfeil an der Unterseite der Brücke gehangen hatte. Es war schon das vierte Mal, und immer war es ohne Zwischenfall abgelaufen.
»Hattest du irgendwelche Schwierigkeiten?«, fragte Kaladin.
»Nein«, meinte Lopen nur und grinste breit. »War so leicht, wie einem Hornesser ein Bein zu stellen.«
»Das hab ich gehört«, sagte Fels brummig, der in geringer Entfernung von ihm stand.
»Und das Seil?«, fragte Kaladin.
»Hab ich über den Rand geworfen«, sagte Lopen. »Aber ich habe es nirgendwo festgebunden, wie du gesagt hast.«
»Gut«, meinte Kaladin. Ein Seil, das von einer Brücke baumelte, wäre auch einfach zu verdächtig gewesen. Wenn Haschal oder Gaz mitbekamen, was Kaladin plante …
Wo ist Gaz eigentlich?, dachte Kaladin. Warum hat er nicht am Brückenlauf teilgenommen?
Lopen händigte Kaladin rasch den Beutel mit den Kugeln aus, als wolle er die Verantwortung dafür unbedingt loswerden. Kaladin nahm ihn entgegen und steckte ihn sich in die Hosentasche.
Lopen zog sich zurück, während Kaladin wieder eine bequemere Haltung einnahm. Das Plateau auf der anderen Seite der Kluft war lang und schmal und wies an den Seiten steile Hänge auf. Wie in den letzten Schlachten half Dalinar Kholin Sadeas’ Streitmacht. Dalinar traf immer zu spät ein. Dafür waren seine langsamen Chulle verantwortlich, die die Brücken zogen. Sehr angenehm. Seine Männer genossen oft den Luxus, ohne Pfeilfeuer die Kluft überqueren zu können.
Auf diese Weise gewannen Sadeas und Dalinar mehr Schlachten als je zuvor. Aber für die Brückenmänner war es gleichgültig.
Viele Menschen starben jenseits der Kluft, doch Kaladin empfand nichts für sie. Nicht den Drang, sie zu heilen,
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