Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
Vater, seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester, seine süße kleine Schwester – sie alle wären endlich gerächt. Nur noch wenige Meter, und er wäre da. Nur noch wenige …
Eine Klinge sirrte und berührte seinen Hals. Laerte blieb sofort stehen. Sein Atem stockte. Die Schwerthand steckte in einem Lederhandschuh. Der Mann, der das Schwert führte, war in eine dunkelgrüne Weste gehüllt und trug einen Umhang, dessen Kapuze sein Gesicht überschattete. Nur seine tiefe, ruhige Stimme war zu hören.
»Friede, Daermon.«
Laerte bemühte sich, in dieser Stimme eine Spur von Menschlichkeit zu entdecken. Sein Angreifer brauchte nur eine einzige Bewegung zu machen, und alles wäre zu Ende. Sehr langsam nahm er die Hand vom Schwertgriff. Würde man ihn jetzt enthaupten? Zum ersten Mal nach vielen Zweikämpfen, großen Ängsten und der Flucht sowohl vor kaiserlichen als auch aufständischen Soldaten – zum ersten Mal nach allem, was er durchgestanden hatte, wurde ihm klar, dass er dem Tod ins Auge blickte. Und erschrocken stellte er fest, dass er sich noch nicht bereit dazu fühlte.
Tränen traten ihm in die Augen. Würde er jetzt und hier sterben müssen, ohne das Andenken seiner Familie zu ehren? Ohne den Krieg zu beenden? Ohne der größte Ritter aller Zeiten zu werden?
»Der Junge ist kein Feind«, donnerte Dun.
Laerte wusste nicht, wer der verhüllte Mann war, doch ihm schien, dass auch sein Meister ihn fürchtete.
»Er stammt aus den Salinen«, sagte die tiefe, nicht unangenehme Stimme.
»Du bist wahrlich schnell darin, mich zu verteidigen, Logrid«, lobte die herrische Stimme des Kaisers hinter dem Vorhang.
Eine Dienerin goss heißes Wasser in das Bad. Der Kaiser fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dampfschwaden stiegen auf.
»Doch ich glaube kaum, dass ein Kind, das seine Heimat verlässt, weil dort Krieg herrscht, einen derart langen Weg zurücklegt, um den Kaiser zu töten.«
Laerte bemühte sich, die Tränen wegzublinzeln. Er hatte versagt! Er hatte seine einzige Chance verstreichen lassen.
Mit zugeschnürter Kehle warf er dem Mann mit der Kapuze einen finsteren Blick zu.
»Logrid«, knurrte Dun, »lass ihn in Frieden.«
Logrid ließ sein Schwert sinken, doch Laerte spürte die Kälte der Klinge noch immer an seinem Hals. Er beobachtete, wie der Verhüllte beiseite trat und die Waffe zurück in die Scheide steckte.
»So heißt man uns also willkommen«, murrte Dun.
»Ich folge lediglich Eurem Beispiel, Daermon«, entgegnete der Mann leise.
»Dieser Junge bedroht den Kaiser nicht, Logrid.«
Laerte ballte die Fäuste. Das stimmt nicht, dachte er. Das stimmt nicht! Er konnte sogar noch mehr tun, als das Kaiserreich zu bedrohen. Er war in der Lage, es zu zerbrechen, zu zerstören, zu vernichten. Und eines Tages würde er es tun. Außerdem war er kein Junge! Kein Kind! Diese lange Reise – er hatte sie nicht umsonst gemacht! Und so wütend er jedoch innerlich auch war, sein Körper war nach wie vor wie gelähmt vor Angst.
»Grenouille!«, mahnte Dun.
Logrid war verschwunden. Vor Laerte befand sich nur noch der rote Vorhang, hinter dem sich der Schemen des Kaisers krümmte. Der Verwalter flüsterte dem General etwas ins Ohr.
»Vielleicht wäre es besser, wenn Ihr Euch zunächst allein mit Seiner Majestät unterhaltet«, schlug der Verwalter leise vor.
Ohne einen Blick für Dun verließ Laerte den Saal. An der Tür überkam ihn die Anwandlung, sich umzudrehen und zum Kaiser zurückzurennen. Dieser Logrid würde doch sicher nicht noch ein zweites Mal auftauchen? Doch Vernunft und Angst hinderten ihn daran zu handeln.
Stumm folgte er dem Verwalter durch den Palast. Schmerz und Wut machten ihm das Herz schwer. Am liebsten wäre er weit weg geflohen und hätte sein Leid in Emeris zurückgelassen.
Als er in der Militärakademie seinen zukünftigen Lehrern vorgestellt wurde, blieb er stumm. Man zeigte ihm sein Zimmer, gab ihm eine graue Schüleruniform und bat ihn, sein Schwert abzulegen. Anschließend führte ihn ein Kamerad in den Innenhof, wo ein Springbrunnen plätscherte. Im Schatten des Säulengangs lehnte er sich an einen Steinpfosten und betrachtete seine Mitschüler. Sie beäugten ihn wie ein fremdartiges Tier und tuschelten miteinander. An ihrem Grinsen erkannte Laerte, dass sie sich über ihn lustig machten, doch er reagierte nicht darauf. Er, der sich in die Höhle des Löwen hatte wagen und den tödlichen Streich hatte ausführen wollen, fühlte sich plötzlich verloren und
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