Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
Tasche. Er beugte sich zu ihrem Gesicht hinunter, doch sie versteifte sich.
»Dich habe ich auch nie vergessen«, flüsterte er.
Ihr Kuss war so innig, dass die Welt um sie herum versank. Nur noch ihr Körper mit seinem süßen, fruchtigen Duft war da. Esyld ließ sich in seine Arme sinken, und dann war sie es, die ihn sanft anleitete. Trotz seiner Sehnsucht hätte Laerte nie gewagt, so weit zu gehen. Immer wieder hatte er davon geträumt, doch seine Unsicherheit hatte ihm niemals mehr als einen Kuss gestattet.
An diesem Tag jedoch entdeckte er sie wie eine frisch gepflückte Blüte, schön und nackt. Stumm umfingen sie sich auf ihrem schmalen Bett. Außer ihrem Atem war im Halbdunkel kein Laut zu hören. Ihre Herzen waren sich ganz nah und schlugen im gleichen Rhythmus. Er kostete ihre Haut, streichelte die Rundungen ihres Körpers und verlor sich in ihr. Je fester sie ihn hielt, desto heftiger umschlang er sie. Er wünschte, dass dieser Moment ewig dauern könnte.
Als er zur Akademie zurückkehrte, fühlte er sich verändert. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, ob er Grenouille oder Laerte hieß – er war zum Mann geworden.
Noch mehrmals traf er sich mit Esyld, doch es bot sich keine Gelegenheit mehr, die Umarmung jenes Tages zu wiederholen. Die Spannung im Palast wuchs. Mit jedem Tag verstärkte sich ihr Verdacht, dass sie belauscht wurden, denn der Kaiser misstraute jedem, vor allem aber den Flüchtlingen.
Laerte belegte einige Kurse an der Akademie, die er ohne Zwischenfall abschloss. Die anderen Schüler mieden ihn nach wie vor. Einige behandelten ihn, als wäre er Dun selbst. Nie zuvor hatte sich Laerte derart selbstsicher gefühlt. Er glaubte felsenfest daran, genau zu wissen, wer er war und warum er tat, was er tat.
Aber in Wirklichkeit hatte Esyld ihn richtig erkannt. Tatsächlich verlor er sich mehr und mehr im Schlachtengetümmel. Immer wieder schob er den Zeitpunkt seiner Konfrontation mit dem Kaiser hinaus und vergaß manchmal sogar den Grund für die Aufstände. Die Erregung im Kampf war ihm wichtiger. Seine Wut blendete ihn so sehr, dass er keine Gründe mehr brauchte, außer dem, diese Wut zu besänftigen. Aber sie war wie ein unstillbarer Durst, wie eine unüberwindliche Sucht.
Ja, Grenouille verlor sich in Wut und Gewalt.
Bis er eines Tages mit sich selbst konfrontiert wurde – mit dem bösartigen Drachen, der sein Herz übernommen hatte. Und diesen inneren Drachen, den jeder Mann eines Tages bekämpfen muss, begegnete er weit entfernt von Emeris im Norden des Reichs.
Es war in Kapernevic, wo er ein Genie namens Aladzio kennenlernte.
6
DER DRACHE
Spüre den Odem. Sei der Odem.
Spür ihn, Grenouille!
Der Zauber ist in dir.
In deinem Atem, den du ausstößt .
A ufstehen!«
Laerte versetzte dem Bett einen heftigen Tritt, drehte sich um und ging hinaus.
Der alte Mann brummelte in seinen Kissen vor sich hin und ließ noch ein paar Minuten verstreichen, ehe er schließlich aufstand und nach unten ging.
Im Salon saß Viola in einem bequemen Sessel und las. Überrascht blickte sie auf, als Laerte an ihr vorbeirauschte. Kurz darauf folgte Dun mit verschlafenem Gesicht.
»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn ein wenig verunsichert.
Der General beachtete sie nicht, sondern durchquerte mit hastigen Schritten den Raum. Laerte wartete an einer Tür, die nach draußen führte. Dun seufzte und nickte.
»Na, das kann ja heiter werden«, dachte Viola laut, als Dun und Laerte das Zimmer verließen.
Keiner von beiden hatte ein Wort gesprochen. Spürbare Anspannung lag in der Luft. Viola stand auf und sah Laerte unter dem Fenster entlanggehen. Zögernd spähte sie nach draußen.
Die beiden Männer überquerten den kleinen, kiesbedeckten Hof oberhalb der terrassenförmig zur Stadt hinunter angeordneten Häuser. Hier lag ihnen ganz Masalia zu Füßen, von den hohen Türmen bis zu den blumengeschmückten Häusern, von den drei Kathedralen bis zur schimmernden Kuppel des Palatio. In der Ferne wiegten sich die Masten der Schiffe im Rhythmus der Gezeiten. Auf dem Meer tanzte das Licht der eben erst aufgegangenen Sonne in hundertfachen Spiegelungen. Dun trat an die niedrige Begrenzungsmauer. Unter ihm zogen sich die roten Ziegeldächer weit ins Tal. Als er noch jünger gewesen war, hätte er von einem Dach zum nächsten springen können wie auf den Stufen einer Treppe. Ob er dazu auch heute noch in der Lage wäre? Könnte er das alles hier hinter sich lassen und wieder in die Ruhe der Tavernen
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