Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
würde sie ganz gewiss nie wieder verlassen.
Das Zimmer war äußerst luxuriös ausgestattet. Auf üppigen Sesseln lagen Dutzende teurer Kleider. All das jedoch bemerkte Laerte nicht. Sein Blick wich nicht von Esyld, die auf dem Bett saß und sich vor einem Standspiegel kämmte. Sie trug ein langes violettes Kleid mit schmalen Trägern. Feine Goldfäden glänzten unter ihren dunklen Locken. Laerte aber stellte sich keine Fragen. Keinen Augenblick dachte er an die Umstände, die ihre Anwesenheit in diesen prunkvollen Gemächern erklärt hätten.
Jegliche Vernunft hatte ihn verlassen. Er schwang ein Bein über die Fensterbrüstung und blieb einen Augenblick rittlings sitzen, während er ihren nackten Rücken und den langen Ausschnitt ihres Kleids bewunderte, der tiefe Einblicke gewährte.
Schließlich schwang er auch das andere Bein über die Brüstung und stand im Raum. Erst in diesem Moment entdeckte Esyld sein Spiegelbild und zuckte zusammen.
»Fürchte dich nicht.«
Sie schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Langsam streifte Laerte die Kapuze zurück und entblößte sein Gesicht.
»Laerte«, flüsterte sie.
Stumm und wie erstarrt betrachtete sie sein blasses Antlitz im Spiegelbild.
»Von diesem Augenblick habe ich seit vielen Jahren geträumt«, gestand er zitternd.
»Du lebst«, sagte sie, als hätte sie nie daran gezweifelt.
Er ging auf sie zu, um sie zu umarmen, doch sie sprang auf, wandte sich ihm zu und strich sich nervös über den Leib.
»Du bist da, und du lebst«, wiederholte sie. »Wie hast du mich gefunden? Wie hast du …«
»Du bist noch genauso wie in meiner Erinnerung«, unterbrach er sie.
Sie wich zurück und hätte dabei beinahe den Spiegel umgeworfen. War es die Überraschung, die sie benommen machte? Um sie nicht noch mehr zu verwirren, zwang sich Laerte, stehen zu bleiben. Voller Begehren blickte er sie an. So viel Zeit war vergangen … Zeit ohne sie.
»Was willst du hier, Laerte?«, fragte sie mit unterdrücktem Schluchzen.
»Nicht weinen«, bat er. »Siehst du, ich bin hier, und ich lebe. Natürlich ist seit dem Untergang des Kaiserreichs viel passiert, und ich weiß auch, dass …«
Er suchte nach Worten, denn dies war ein Augenblick, in dem er besser nichts riskieren sollte. Keinesfalls wollte er ihre erste Begegnung nach so vielen Jahren durch eine falsche Wortwahl trüben. Dazu hatte er viel zu oft von ihrem Wiedersehen geträumt.
»Weißt du, ich habe es wirklich versucht«, entschuldigte er sich. »Ich habe versucht, dich zu finden, aber es war zu spät. Mir sind Dinge passiert, die … es ging einfach nicht. Es war zu spät, das musst du mir glauben. Aber seit damals ist nicht ein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe.«
Je länger er sprach, desto mehr schien sie sich zu sammeln. Sie atmete tief durch. Nein, sie hatte sich wahrhaftig nicht verändert. Sie war so, wie er sie sich immer erträumt hatte. Bis auf die Tatsache, dass sich in ihrem Gesicht eher Angst als Wiedersehensfreude spiegelte.
Langsam ging er auf sie zu. Dieses Mal wich sie nicht zurück. Als er unmittelbar vor ihr stand, hob er schüchtern eine Hand an ihre Wange. Seine Finger berührten ihre Haut und spielten mit einer Locke. Er tauchte in ihre Augen ein und erahnte, wie schnell ihr Herz schlug. Der Duft ihrer Haut machte ihn ebenso trunken wie ihre roten Lippen, deren Farbe ihn an das Kleid erinnerte, das sie am Vorabend des Sturms auf Emeris auf dem Steg getragen hatte.
Damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
»Was willst du hier?«, flüsterte sie erneut.
»Ich bin da, wo ich seit Langem hätte sein sollen.«
Sie neigte den Kopf zur Seite als erwarte sie einen Kuss.
Laerte beugte sich zu ihren Lippen hinunter.
»Nein!«, flehte sie ihn an. »Das geht nicht.«
Mit beiden Händen schob sie ihn von sich.
»Die ermordeten Ratsherrn«, fragte sie zitternd, »warst du das?«
Im ersten Moment wusste er nicht, was er sagen sollte. Musste er ihr jetzt und hier alles gestehen? Ihr alles erklären, obwohl sie sich gerade erst wiedergefunden hatten?
»Ach, Esyld, es ist viel geschehen«, sagte er.
»Dann warst du es also«, seufzte sie.
»Es ist nicht so, wie du denkst«, verteidigte er sich. »Nach dem Untergang des Kaiserreichs habe ich herausgefunden, warum mein Vater umgebracht wurde.«
»Das ist siebzehn Jahre her, Laerte!«
Ihre Stimme war lauter geworden und bebte. Nein, so hatte er sich ihr Wiedersehen gewiss nicht
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