Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
›Gut gemacht, Junge‹? Noch nicht einmal nach dem Treueid. Von dir kam kein Glückwunsch. Einfach nichts. Wie gern hätte ich eines Tages von dir gesagt, dass du mir wie ein Vater gewesen bist … aber ich …«
Er rang um Worte und senkte den Blick. Als er wieder aufsah, klang seine Stimme scharf wie ein Schwert. »Manchmal hasse ich dich.« Mit diesen Worten wandte er sich um und ging so rasch davon, dass sein Umhang hinter ihm herflatterte.
Dun blieb allein auf dem Steg zurück. Die untergehende Sonne vergoldete den Himmel. Er seufzte. Warum nur hatten sie immer diese Schwierigkeiten, miteinander zu reden? Warum sprachen sie nie das richtige Wort zur richtigen Zeit aus? Schon öfter war der Junge nach einer Diskussion einfach fortgegangen – so, als wäre alles gesagt und nichts mehr zu erklären. In solchen Augenblicken schienen sie keine Gemeinsamkeiten zu haben, und jedes Mal ertappte sich Dun dabei, den Jungen mit Logrid zu vergleichen. Würde es mit ihm ähnlich enden?
Und doch hatte ihre Beziehungen einmal aus komplizenhaften Blicken und scherzhaften Worten bestanden. In einer Hinsicht allerdings hatte Grenouille recht: Sein Meister hatte ihn nie beglückwünscht. Aber warum auch? Der Junge war nicht einfach nur begabt – er war brillant. Ein fleißiger Arbeiter, der von einer Kraft angetrieben wurde, die niemand wirklich verstand.
Dun hatte sich lange bemüht, mehr über Grenouilles Lebensgeschichte zu erfahren. Nur zu gern hätte er gewusst, was ihm widerfahren war, ehe sie sich kennenlernten – vielleicht hätte er sich dadurch Grenouilles Beweggründe erklären können. Im Lauf der Jahre jedoch hatte er akzeptieren müssen, dass der Junge sein Geheimnis für sich behalten wollte, und so hatte er sich damit begnügt, ihm dabei zuzusehen, wie er erwachsen wurde, statt mit ihm über die Vergangenheit zu sprechen. Schließlich war es die Zukunft, die zählte. Eine Zukunft, die inzwischen deutlich düsterer aussah als noch vor kurzer Zeit. Der Kaiser hatte bereits den nächsten Einsatz in Aussicht gestellt, doch bisher hatte Dun keine Zeit gefunden, mit Grenouille über seine Vorahnung zu sprechen. Und es war keine gute …
Noch nie hatte seine Intuition ihn getäuscht. Er konnte den Tod riechen.
»Die Aufständischen sind im Anmarsch auf Emeris«, verkündete eine unangenehm harte Stimme.
Die beiden schweren Türflügel öffneten sich vor Dun. Mit sicherem Schritt und der rechten Hand am Griff seines Schwertes durchquerte er den Saal. Der aus Gold und Silber gefertigte Thron des Kaisers schimmerte. Dünne Schleier bauschten sich leicht im Wind. In einen schwarzen bodenlangen Umhang gehüllt saß der Kaiser auf dem Thron. Eine goldene Maske verbarg sein Gesicht und ließ nur die Augen erkennen.
»Der Westen, der Süden und der Südosten haben sich heute Morgen den Aufständischen ergeben.«
»Der Rest wird sich wohl hier abspielen«, weissagte ein alter, auf einen gewundenen Eichenstock gestützter Mann.
»Ihr hättet schneller handeln müssen«, sagte der Mann mit der unangenehmen Stimme. Wenn er den Kopf neigte, bekam sein Doppelkinn Falten.
Der dicke Mann in seinem blauen Mantel verdeckte fast die Gestalt des Kaisers. Niemand konnte eine gewisse Ähnlichkeit mit Hauptmann Azdeki leugnen, der unmittelbar neben ihm stand. Etienne jedoch war schlank und hochgewachsen, sein Onkel hingegen ähnelte einem massigen Fleischberg, auf dem man oben eine weiße Strähne befestigt hatte. Baron Azinn Azdeki von den Baronien im Osten des Vershan hatte es immer vorgezogen, Bankette und Feierlichkeiten zu besuchen, als sich auf dem Schlachtfeld herumzutreiben.
Niemand reagierte auf die Ankunft des Generals. Nur der Kaiser schien ihm ein gewisses Interesse entgegenzubringen. Sechs Ratsherrn waren versammelt. Der Onkel des Kaisers, Hochbischof Reyes vom Fangol-Orden, stand neben seinem Neffen. Marquis von Enain-Cassart hatte die weißen Haare straff nach hinten gekämmt, stützte sich auf seinen Eichenstock und hielt sich in unmittelbarer Nähe des Throns auf. Rechts von Baron Azdeki runzelte sein Neffe nachdenklich die Stirn. Links von ihm zeigten der Herzog von Rhunstag und der Graf von Bernevin deutliche Anzeichen von Ungeduld. Der dicke Rhunstag trug einen Fellmantel, der schlanke Bernevin ein purpurfarbenes, in der Taille von einem Silbergürtel gehaltenes Gewand. Die beiden traten fast immer gemeinsam auf. Ihre Ländereien grenzten unmittelbar aneinander, was sie zu unzertrennlichen Nachbarn machte,
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