Der Pfad des Zorns - Das Buch und das Schwert 1: Buch & Schwert 1 (German Edition)
aufstieg? Unter Logrids Umhang hatte er ihn nicht erkannt.
»Und jetzt wollen sie den Traum meines Vaters vernichten«, fuhr der Mann ruhig fort. »Aber ich werde sie nicht auf dem herumtrampeln lassen, was ihn überlebt hat. Wir brauchen das Schwert.«
»Dein Vater?«
Ein Teil seines Lebens zerschellte in tausend Teile, und selbst wenn er sie hätte aufsammeln können, wären sie doch nie wieder zu einem Ganzen geworden.
Der Mann nickte kurz, schob die Kapuze zurück und enthüllte ein Gesicht, von dem Dun geglaubt hatte, dass er es niemals wiedersehen würde.
»Ich hatte mich verirrt, Sumpfschnepfe. Jahrelang hat man mir alles genommen, sogar meinen Namen. Jetzt aber habe ich meinen Weg gefunden. Einen Weg, der dir nicht gefallen wird.«
»Laerte«, sagte Viola beunruhigt.
Dun spürte, wie sein Herz brach.
»Uster«, entfuhr es ihm.
Dieser Mann ist kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr, sondern ein Gerücht.
Wie die beiden Seiten einer Münze … Genauso ist es mit den Ereignissen. Es hört sich immer anders an – je nachdem, wer von ihnen berichtet.
ZWEITER TEIL
1
SCHICKSAL
Ist es die Ironie des Schicksals
oder der Wille der Götter,
der zulässt, dass ein Mensch
seinen eigenen Feind nährt?
D er erste Kuss, das erste Liebeswort, die erste innige Umarmung – das Leben eines Mannes wird von Ereignissen bestimmt, die ihm für immer im Gedächtnis bleiben. Ebenso wie die erste Waffe, der erste Schlag und der erste mit eigener Hand gegebene Tod.
Wer kann sich bei all diesen ersten Malen noch an den Augenblick erinnern, in dem das Leben plötzlich einen Sinn bekam? An den Moment, in dem sich das Schicksal der eigenen Person annahm und sie auf einen bestimmten Weg schickte?
Für ihn hatte dieser Augenblick vor siebzehn Jahren stattgefunden.
»So geht das nicht, Laerte«, sagte eine sanfte Stimme.
In den Salinen herrschte der Graf von Uster, ein Mann, der wegen seines Urteilsvermögens, seiner Autorität und Milde hoch geschätzt wurde. Er war sehr gebildet und dazu geschickt mit dem Schwert, liebte jedoch die Feder so sehr, dass er oft die Klinge in der Scheide ließ, wenn andere längst Gewalt gebraucht hätten, um Gehorsam einzufordern. Das Volk liebte ihn sowohl wegen seiner Fähigkeit als Kämpfer als auch für seine kultivierte Art. Er klärte die Menschen auf.
»So musst du es machen«, erklärte sie und zeigte ihm, wie er die Armbrust spannen sollte.
Damals wusste noch niemand, dass sich die Region schon zwei Jahre später im Krieg befinden würde.
Falls sich Oratio überhaupt etwas hatte zuschulden kommen lassen, dann war es Blasphemie, doch selbst seine gläubigsten Untertanen hatten ihm leichten Herzens verziehen. Entgegen den von den Fangol-Mönchen erlassenen Gesetzen schrieb er immer wieder eigene Texte, und es waren keine Aufstellungen oder Listen, sondern Überlegungen über die Zukunft der Welt. Doch er tat es mit so viel Wissen und Intelligenz, dass seine Werke insgeheim bereits in Emeris gelesen und diskutiert wurden.
Das Mädchen nahm Laerte die Armbrust aus der Hand und zeigte es ihm. »Hier spannst du, dann setzt du sie auf die Schulter und zielst …«
Sie schwieg einen Augenblick und konzentrierte sich auf ihr Ziel.
»… und dann schießt du«, flüsterte sie.
Sie ließ die Sehne schnellen, und schon zitterte der Bolzen in der Rinde eines Baums. Ohne ein weiteres Wort reichte sie dem Jungen die Waffe mit einem schelmischen Lächeln. Sie war schön. Ihr schwarzes Haar lockte sich bis auf ihre nackten Schultern, und das grüne Kleid schmiegte sich um die knospenden Formen ihres nicht mehr ganz kindlichen Körpers. Sie war noch keine Frau, versuchte aber, sich so zu verhalten. Vermutlich war das auch der Grund dafür, dass sich Laerte in ihrer Gegenwart immer ein wenig hilflos fühlte. Die Werke Oratio von Usters waren ihm fremd, ebenso wie die Unruhe, die sie am kaiserlichen Hof hervorriefen. Obwohl er Oratios Sohn war, interessierten ihn derzeit ganz andere Dinge. Eingeschüchtert betrachtete er die Züge des jungen Mädchens und die Kurven ihres Körpers. Als sie ihn dabei ertappte und mit ihren blauen Mandelaugen musterte, wandte er sofort den Blick ab und errötete heftig.
»Es ist ganz einfach«, sagte sie mit veränderter Stimme und taxierte ihn lächelnd.
Laerte konnte es nicht leiden, wenn sie sich derart hochnäsig, ja fast geringschätzig gab. Und das alles nur, weil sie gerade vierzehn geworden war, er aber erst zwölf Jahre zählte. Noch immer hörte
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