Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pfad im Schnee

Der Pfad im Schnee

Titel: Der Pfad im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
Vom Netzwerk:
Stammesangehörigen gegangen wäre, hätten sie ihn nicht am Leben gelassen. So ist es jetzt auch.«
    »Warum?«, fragte Kaede. »Warum? Ich verstehe das nicht.«
    »So ist der Stamm. Gehorsam bedeutet den Mitgliedern alles.«
    »Und warum hat er sie verlassen?«
    »Das ist nicht klar. Es gab eine heftige Auseinandersetzung, irgendeine Meinungsverschiedenheit. Er erhielt einen Auftrag und kam nie zurück.« Shizuka hielt einen Moment inne. »Kondo glaubt, er könne in Terayama sein. Wenn das stimmt, wird er dort den Winter über sicher sein.«
    Kaede entzog Shizuka ihre Hände und stand auf. »Ich muss dorthin.«
    »Das ist unmöglich. Es ist schon vom Schnee eingeschlossen.«
    »Ich muss ihn sehen!« Kaedes Augen funkelten in dem blassen Gesicht. »Wenn er den Stamm verlassen hat, wird er wieder ein Otori. Wenn er ein Otori ist, können wir heiraten!«
    »Lady!« Auch Shizuka stand auf. »Was soll diese Tollheit? Sie können ihm nicht einfach so nachlaufen! Selbst wenn die Straßen offen wären, wäre das undenkbar. Viel besser ist es, wenn Sie wollen, was Sie angeblich wollen: Fujiwara heiraten. Das wünscht er sich.«
    Kaede kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. »Nichts wird mich abhalten, nach Terayama zu gehen. Tatsächlich sollte ich dorthin… auf einer Pilgerreise… um dem Allergnädigsten für die Rettung meines Lebens zu danken. Ich habe versprochen, nach Inuyama zu Arai zu gehen, sobald der Schnee schmilzt. Unterwegs werde ich den Tempel besuchen. Selbst wenn Lord Fujiwara mich heiraten will, kann ich nichts tun, ohne mich zuvor mit Lord Arai zu beraten. Oh, Shizuka, wie lange dauert es noch bis zum Frühjahr?«

KAPITEL 9

    Die Wintertage krochen dahin. Jeden Monat reiste Kaede zu Lord Fujiwaras Wohnsitz, blieb eine Woche lang und erzählte nachts, während Schnee fiel oder der Mond kalt auf den gefrorenen Garten schien, die Geschichte ihres Lebens. Fujiwara stellte viele Fragen und ließ sie manches wiederholen.
    »Das könnte der Stoff eines Dramas sein«, sagte er mehr als einmal. »Vielleicht sollte ich mich daran versuchen, so etwas zu schreiben.«
    »Sie würden es nie jemandem zeigen können«, entgegnete Kaede.
    »Nein, das Vergnügen bestünde allein im Schreiben. Ich würde es natürlich mit Ihnen teilen. Wir könnten es einmal zu unserem Vergnügen aufführen lassen und dann die Schauspieler zum Tod verurteilen.«
    Oft gab er solche Kommentare ab ohne die geringste Spur einer Gemütsbewegung, und erschreckte sie damit zunehmend, obwohl sie ihre Ängste verbarg. Mit jeder Wiederholung wurde ihr Gesicht maskenhafter, ihre Bewegungen wurden einstudierter, als würde sie endlos ihr Leben auf einer Bühne darstellen, die er so sorgfältig errichtet hatte wie das perfekt konstruierte Theater, in dem Mamora und die anderen jungen Männer ihre Rollen spielten.
    Am Tag hielt er sein Versprechen, sie zu unterrichten wie einen Jungen. Er gebrauchte ihr gegenüber die Männersprache und ließ sie darin antworten. Manchmal amüsierte es ihn, sie in Mamorus Kleidung mit zurückgebundenem Haar zu sehen. Dieses Rollenspiel ermüdete sie. Aber sie lernte.
    Fujiwara erfüllte auch seine anderen Versprechen, ließ Lebensmittel in ihr Haus bringen und Shizuka am Ende jeden Besuchs Geld aushändigen. Kaede zählte es mit der gleichen Begierde, mit der sie lernte. Sie sah in beidem die gleiche Währung für ihre Zukunft, die ihr Freiheit und Macht verschaffte.
    In den ersten Frühjahrstagen gab es einen Kälteeinbruch, bei dem die Pflaumenblüten an den Zweigen erfroren. Kaedes Ungeduld wuchs, je länger die Tage wurden; die zunehmende Kälte und härteren Fröste, gefolgt von frischem Schneefall, machten sie fast wahnsinnig. Ihre Seele war verzweifelt wie ein Vogel, der im Haus gefangen ist, doch sie wagte es nicht, ihre Gefühle irgendjemandem anzuvertrauen, noch nicht einmal Shizuka.
    An sonnigen Tagen ging sie zu den Ställen und beobachtete Raku, wenn Amano die Pferde in den nassen Wiesen galoppieren ließ. Der Hengst schien oft fragend nach Nordosten zu schauen und in den scharfen Wind zu schnuppern.
    »Bald«, versprach sie ihm. »Bald werden wir unterwegs sein.«
    Der abnehmende Mond im dritten Monat brachte schließlich einen warmen Südwind. Als Kaede aufwachte, tropfte Wasser von den Simsen, rann durch den Garten und schoss die Wasserfälle hinunter. In drei Tagen war der Schnee verschwunden. Nackt und schlammig zeigte sich die Welt und wartete darauf, wieder mit Klängen und Farben gefüllt zu

Weitere Kostenlose Bücher