Der Pfad im Schnee
herausschaute.
»Lord Fujiwara, verzeihen Sie mir. Sie können unmöglich hereinkommen.«
»Ich habe gehört, dass Lady Otori schwer krank ist«, entgegnete er. »Ich möchte im Garten mit dir reden.«
Sie blieb knien, während er an ihr vorbeiging, dann stand sie auf und folgte ihm zum Pavillon am Bach. Er winkte seine Diener fort und wandte sich ihr zu.
»Wie ernst ist es?«
»Ich glaube nicht, dass sie die Nacht überlebt«, sagte Shizuka leise. »Wir haben alles versucht.«
»Ich habe meinen Arzt mitgebracht. Zeig ihm, wohin er gehen soll, und komm dann zu mir zurück.«
Shizuka verneigte sich und ging zum Tor, wo der Arzt, ein kleiner Mann mittleren Alters, der gütig und intelligent wirkte, aus der zweiten Sänfte stieg. Sie brachte ihn zu dem Zimmer, in dem Kaede lag, und das Herz wurde ihr schwer beim Anblick der bleichen Haut und der verdrehten Augen. Kaede atmete schnell und flach, hin und wieder stieß sie einen spitzen Schrei aus, bei dem sich unmöglich sagen ließ, ob er von Angst oder Schmerz ausgelöst war.
Als Shizuka zu Lord Fujiwara zurückkam, schaute er zum Rand des Gartens, wo der Bach über Felsen stürzte. Die Luft war frischer geworden und das Geräusch des Wasserfalls klang trostlos und einsam. Shizuka kniete wieder nieder und wartete darauf, dass der Lord sprach.
»Ishida ist sehr erfahren«, sagte er. »Gib die Hoffnung noch nicht auf.«
»Lord Fujiwara ist außerordentlich gütig«, murmelte Shizuka. Sie konnte nur an Kaedes bleiches Gesicht und die wilden Augen denken, sie wollte schleunigst zu ihr zurück, doch ohne die Erlaubnis des Edelmanns durfte sie nicht weg.
»Ich bin nicht gütig«, entgegnete er. »Mich treiben vor allem meine eigenen Wünsche, meine Selbstsucht. Ich bin von Natur aus grausam.« Nach einem kurzen Blick zu ihr fragte er: »Wie lange stehst du schon in Lady Shirakawas Diensten? Du stammst nicht aus diesem Teil des Landes?«
»Ich wurde im Frühling zu ihr geschickt, als sie noch im Schloss Noguchi war.«
»Von wem geschickt?«
»Von Lord Arai.«
»Tatsächlich? Und berichtest du ihm?«
»Was kann Lord Fujiwara damit meinen?«
»Für eine Dienerin hast du etwas Ungewöhnliches an dir. Ich habe mich gefragt, ob du eine Spionin bist.«
»Lord Fujiwara hat eine zu hohe Meinung von meinen Fähigkeiten«, erwiderte Shizuka.
»Ich hoffe, du hast nie Grund, meine Grausamkeit zu wecken.«
Sie hörte die Drohung hinter seinen Worten und schwieg.
Wie im Selbstgespräch fuhr er fort: »Ihre Person, ihr Leben berühren mich auf eine Art, die ich nie zuvor empfunden habe. Ich dachte, ich sei längst darüber hinaus, neue Gefühle zu erleben. Ich werde mir Lady Shirakawa von nichts und niemandem - noch nicht einmal vom Tod - rauben lassen.«
»Jeder, der sie sieht, ist von ihr bezaubert«, flüsterte Shizuka, »aber das Schicksal war ungewöhnlich grausam zu ihr.«
»Ich wünschte, ich würde ihr wahres Leben kennen«, sagte er. »Ich weiß, dass sie viele Geheimnisse hat. Die neueste Tragödie, der Tod ihres Vaters, ist vermutlich ein weiteres. Ich hoffe, du sagst es mir eines Tages, wenn sie es nicht kann.« Die Stimme versagte ihm. »Der Gedanke, dass eine solche Schönheit zu Grunde geht, durchbohrt mir die Seele«, sagte er dann. Shizuka glaubte etwas Gekünsteltes in seinem Ton zu hören, doch seine Augen standen voller Tränen. »Wenn sie am Leben bleibt, heirate ich sie«, sagte er. »So werde ich sie immer bei mir haben. Du kannst jetzt gehen. Aber wirst du ihr das sagen?«
»Lord Fujiwara.« Shizuka berührte mit der Stirn den Boden und kroch rückwärts davon. Wenn sie am Leben bleibt…
KAPITEL 6
Matsue war eine Stadt des Nordens, kalt und schmucklos. Wir kamen mitten im Herbst dort an, als der Wind vom Festland über ein Meer heulte, das dunkel war wie Eisen. Sobald die Schneefälle begannen, würde Matsue wie Hagi drei Monate lang vom übrigen Land abgeschnitten sein. Der Ort war so gut wie jeder andere, um zu lernen, was ich lernen musste.
Eine Woche lang waren wir den ganzen Tag auf der Küstenstraße gewandert. Es regnete nicht, aber der Himmel war oft bewölkt und jeder Tag war kürzer und kälter als der vorangegangene. Wir hielten in vielen Dörfern und zeigten den Kindern Jonglierkünste, sich drehende Kreisel und Schnurspiele, die Yuki und Keiko kannten. Nachts fanden wir immer eine Unterkunft bei Händlern, die zum Netzwerk des Stammes gehörten. Ich lag wach bis spät, horchte auf die geflüsterten Gespräche und hatte in der
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