Der Pfad im Schnee
Nacht drohten wieder mich zu überwältigen. Ich wollte weiter. Ich wollte die Person nicht treffen, die hinter dem Felsen verborgen war und so langsam atmete, dass es kaum menschlich klang.
»Kommen Sie«, sagte Jo-An, und ich folgte ihm um den Felsen herum, wobei ich den Blick in den Abgrund vermied. Dahinter war eine Höhle in den Berg gegraben. Wasser tropfte von ihrer Decke. Im Lauf der Jahrhunderte hatte es Speere und Säulen gebildet und einen Kanal in den Boden gebohrt, der zu einem kleinen tiefen Teich führte; die Seiten waren so gleichförmig wie bei einer Zisterne und kalkweiß. Das Wasser glänzte schwarz.
Die Decke der Höhle neigte sich, sie folgte der Form des Bergs und an der oberen, trockeneren Seite saß eine Gestalt, die mir wie eine Statue vorgekommen wäre, wenn ich sie nicht atmen gehört hätte. Sie war grauweiß wie der Kalkstein, als hätte sie hier so lange gesessen, dass sie in den Stein verwandelt worden war. Es ließ sich schwer sagen, ob sie ein Mann oder eine Frau war. Ich erkannte in ihr einen dieser Uralten, einen Einsiedler, einen Mönch oder eine Nonne, die sich über das Geschlecht hinaus entwickelt hatten und der nächsten Welt so nahe gekommen waren, dass sie fast reiner Geist waren. Das Haar fiel um sie wie ein weißer Schal, Gesicht und Hände waren grau wie altes Papier.
Die Gestalt saß meditierend auf dem Boden der Höhle und zeigte weder Anstrengung noch Unbehagen.
Vor ihr war eine Art Steinaltar mit welkenden Blumen, den letzten Herbstlilien, und anderen Gaben: zwei bittere Orangen mit runzliger Haut, ein kleines Stück Stoff und ein paar Münzen von geringem Wert. Der Altar glich jedem anderen Schrein für den Berggott bis auf das Zeichen der Verborgenen, das mir Lady Maruyama vor so langer Zeit in Chigawa in die Hand gezeichnet hatte. Hier war das Symbol in den Stein gemeißelt.
Jo-An band sein Tuch auf und nahm den letzten Hirsekuchen heraus. Er kniete nieder und legte ihn behutsam auf den Altar, dann neigte er den Kopf bis auf den Boden. Die Gestalt öffnete die Augen und richtete sie auf uns, ohne uns zu sehen. Die Augen waren von Blindheit getrübt. Auf das Gesicht trat ein Ausdruck, der bewirkte, dass ich auf die Knie sank und mich verbeugte - ein Ausdruck tiefer Zärtlichkeit und starken Mitgefühls, vermischt mit vollkommener Weisheit. Ich bezweifelte nicht, dass ich bei einem heiligen Wesen war.
»Tomasu«, sagte es, und ich hielt die Stimme eher für die einer Frau als eines Mannes. Es war so lange her, seit jemand mich bei dem Taufnamen nannte, den meine Mutter mir gegeben hatte, dass sich mir die Nackenhaare sträubten und ich nicht nur vor Kälte schauderte.
»Setz dich auf«, sagte sie. »Ich habe Worte zu sagen, die du hören musst. Du bist Tomasu aus Mino, aber du bist sowohl ein Otori wie ein Kikuta geworden. Dreierlei Blut ist in dir vermischt. Du wurdest ins Verborgene geboren, doch dein Leben ist ins Offene gebracht worden und gehört nicht mehr nur dir. Die Erde wird bringen, was der Himmel wünscht.«
Sie schwieg. Die Alinuten vergingen. Die Kälte drang mir in die Knochen. Ich fragte mich, ob sie noch etwas sagen würde. Zuerst war ich erstaunt, dass sie wusste, wer ich war; dann nahm ich an, dass Jo-An ihr von mir erzählt hatte. Wenn das die Prophezeiung sein sollte, dann war sie so dunkel, dass sie mir nichts bedeutete. Ich fürchtete zu erfrieren, wenn ich noch länger hier kniete, doch die Kraft der blinden Augen hielt mich fest.
Ich horchte auf den Atem von uns dreien und auf die Geräusche des Bergs, die heiseren Rufe der Krähen, das ruhelose Rauschen der Zedern im Nordostwind, das Rieseln und Tropfen des Wassers, das Ächzen des Bergs, während die Temperatur sank und die Felsen schrumpften.
»Dein Land wird sich von Meer zu Meer erstrecken«, sagte sie schließlich. »Aber der Frieden kommt um den Preis des Blutvergießens. Fünf Schlachten werden dir den Frieden bringen, vier Mal wirst du den Sieg davontragen, ein Mal musst du dich geschlagen geben. Viele müssen sterben, doch du bist sicher vor dem Tod außer durch die Hände deines eigenen Sohns.«
Ein weiteres langes Schweigen folgte. Mit jeder Sekunde nahm die Abenddämmerung zu und die Luft wurde kälter. Mein Blick wanderte durch die Höhle. Neben der heiligen Frau stand eine Gebetsmühle auf einem kleinen Holzblock, dessen Rand mit geschnitzten Lotusblättern verziert war. Ich war verwirrt. Ich wusste, dass viele Bergschreine den Frauen verboten waren, und keiner, den
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