Der Piratenlord
Wohlergehen verschwand, und ein harter Ausdruck trat in Barnabys Augen. „Vor langer Zeit schon habe ich jede Loyalität für die Engländer aufgegeben, Mylady. Außerdem bin ich der letzte Mensch, der den Captain dazu ermuntern würde, Sie alle gehen zu lassen.“
„Warum?“
„Weil es meine Idee war, das Sträflingsschiff zu kapern.“ Sie hätte es wissen müssen. Einem Piraten war nicht! zu trauen, welcher Nationalität er auch immer angehören mochte. Er würde ihnen nie helfen. Also waren sie ohne jede Hoffnung.
„Bringen Sie mich zum Captain“, sagte sie wie betäubt. Es hatte keinen Sinn, etwas hinauszuzögern. Sie würde ihre Schicksal ruhig entgegensehen.
Schweigend gingen sie unter den Wanten entlang zum Achterdeck, das sich drohend vor ihnen erhob. Sie erhaschte einen Blick auf den Captain, der mit dem Rücken zu ihnen oben am Steuerrad stand, und einen kurzen Augenblick lang durchfuhr sie eine eisige Kälte. Seine steife Haltung, die kühn gespreizten Beine, der breite bedrohliche Rücken . . . nie zuvor hatte sie eine so beängstigende Männergestalt gesehen. Mr. Kent musste sich keine Sorgen machen. Sie hatte kein Verlangen danach, Captain Horn zu verärgern.
Dann brachte Mr. Kent sie durch die Tür unter dem Achterdeck in einen Raum, der so groß war wie der Salon auf der Chastity. Zum Glück war niemand anwesend, weil alle damit beschäftigt waren, sich mit dem Schiff von der Chastity zu entfernen. Doch bald würde sich dieses Zimmer mit Piraten füllen, die trinken und spielen würden und . . .
Sie scheute sich, darüber nachzudenken, was sie sonst noch alles tun mochten. Wenigstens hatten sie und die Frauen noch eine kurze Atempause. Und wenn sie vernünftig mit dem Captain sprach, konnte sie ihn vielleicht dazu bringen, seine Meinung zu ändern.
Dieser Gedanke verging ihr jedoch, als Mr. Kent die Tür zur Kapitänskajüte im Heck des Schiffs öffnete und sie hineinführte. Sie sah sich um und war entsetzt über deren üppige Ausstattung und den gut gefüllten Waffenschrank. Das war nicht die Kajüte eines ehrlichen Mannes, der Mitleid hatte mit verurteilten Frauen. Es war die eines lasterhaften Menschen. Und für sie alle würde es keine Gnade geben.
„Der Captain wird in Kürze bei Ihnen sein“, meinte Mr. Kent, ehe er davonging und die Tür hinter sich schloss.
Sie achtete gar nicht weiter auf ihn, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt war, sich umzuschauen. Sie hatte bisher nur eine Kapitänskajüte gesehen, und die hatte Captain Rogers gehört. Deren spartanische Ausstattung ließ sie im Vergleich zu dieser hier wie die eines Kabinenstewards erscheinen.
Jedes Möbelstück war aus bestem Mahagoni gefertigt worden, vom Schreibtisch, der mit Instrumenten und Papieren überhäuft war bis zu dem Schrank, der Pistolen und Messer in jeder Form hinter seinen geschliffenen Kristallglastüren enthielt. Die königsblauen Vorhänge waren mit Goldfäden durchwirkt, und ein Perserteppich lag auf dem Fußboden, eine besondere Extravaganz an einem Ort, an dem Wasser immer eine Bedrohung war.
Doch das beunruhigendste Möbelstück war das große Bett mit Mahagonigestell, das eine Ecke der geräumigen Kabine einnahm und in dessen Pfosten das gleiche Satyrmotiv geschnitzt war, das als Galionsfigur das Schiff zierte. Eine Tagesdecke aus roter Seide war über die Matratze drapiert und ein Berg pechschwarzer Kissen lagen am Kopfende. Wie in Trance ging sie zu dem Bett hinüber und stellte sich dabei laut die Frage, welche Ausschweifungen und Gräueltaten hier wohl schon stattgefunden haben mochten.
Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und berührte die gemusterte rote Seide, und plötzlich stand ihr das Bild des dunkelhaarigen Piraten deutlich vor Augen. Er musste viele Frauen in diesem Bett gehabt haben. Eine seltsame Hitze durchströmte sie bei der Vorstellung, wie er sich über eine Frau beugte, ihren Körper mit den Händen berührte und sie mit seinem festen Mund küsste . . .
„Suchen Sie nach Spuren von Diebstahl, Plünderung und Gewalt, Lady Sara?“ erkundigte sich jemand hinter ihr.
Mit feuerroten Wangen fuhr sie blitzschnell vom Bett zurück. Gott im Himmel, der Piratenlord war unbemerkt gekommen. Wie entsetzlich demütigend! Er schloss die Tür und lächelte flüchtig, als sie noch immer sprachlos dastand.
„Die Tagesdecke gehörte einem grässlichen Viscount, der nach Amerika reiste, um dort eine reiche Erbin zu heiraten“, sagte Gideon, während er den Säbel von seinem
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