Der Pistoleiro: Die wahre Geschichte eines Auftragsmörders
schlafen legte, zählte Júlio das Geld wieder und wieder. Es schien ihm immer noch unglaublich. Und er hatte das Gefühl genossen, das er beim Töten verspürt hatte. Die Angst, die Anspannung, die Nervosität, der schnelle Puls – alles führte irgendwie dazu, dass er sich gut fühlte. Abenteuer wie dieses wollte er gern noch einmal erleben. Und noch mehr Geld verdienen.
EINE LISTE MIT 487 TOTEN
Es war nicht das erste Mal, dass Júlio Santana sich fragte: Wie viele Menschen habe ich wohl schon getötet? Nur hatte er sich bisher nie die Zeit dafür genommen, sie zu zählen. An einem Sonntag, dem 16. April 2006, wachte er mit dem Entschluss auf, es endlich zu tun. Es würde ihm nicht schwerfallen, denn er musste lediglich das Heft holen, das er in einem alten Rucksack hinter dem Kleiderschrank aufbewahrte und in das er all seine Aufträge eingetragen hatte. Nur drei seiner Opfer würde er nicht darin finden, den Fischer Amarelo, die Guerillera Maria Lúcia Petit und den Markthändler Caetano – weil er erst 1974 mit den Aufzeichnungen begonnen hatte, drei Jahre nach seinem ersten Mord. Wie jeden Sonntag verbrachte er den Tag zu Hause in Porto Franco. 1984 hatte er geheiratet und lebte seitdem wieder dort, mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, einem achtzehnjährigen Sohn und einer zwölfjährigen Tochter. Sein ältester Sohn wäre im März 2006 einundzwanzig Jahre alt geworden, wäre er nicht im Oktober 2004 bei einem Motorradunfall in Imperatriz ums Leben gekommen. – Júlio ist bis heute überzeugt davon, dass der Tod seines Erstgeborenen die Strafe Gottes für all das Unheil gewesen ist, das er angerichtet hat.
Er wartete, bis Frau und Tochter zur Morgenmesse in die evangelikale Kirche »Assembléia de Deus« und der Sohn Fußball spielen gegangen waren, sie sollten ihm nicht zusehen. Als er endlich allein war, schob er im Schlafzimmer den Kleiderschrank von der Wand. Der Rucksack war völlig verstaubt und musste erst einmal ausgeklopft werden. Er wollte sichergehen, dass ihn niemand überraschte, und sah durch die Tür auf die Straße: Nur vier oder fünf Jungs, die auf dem harten Lehmboden kickten. Er machte alle Fenster und Türen zu und zog das Heft aus dem Rucksack. Auf dem Umschlag ein Bild von Donald Duck. Auf den vergilbten Seiten die Namen all der Menschen, die er seit März 1974 getötet hatte, mit Datum, Tatort, dem Betrag, den er für die Arbeit erhalten hatte, sowie den Namen der Auftraggeber und der jeweiligen Opfer.
Er setzte sich auf das braune Dreier-Sofa, rollte das Heft zu einem Rohr zusammen und ließ den Blick durch sein Wohnzimmer streifen. Links von ihm stand ein weiteres Sofa, ein Zweisitzer, vor ihm ein Couchtisch mit Glasplatte und an der Wand dahinter ein Regal aus Kirschbaumholz, in dem sich der 20-Zoll-Fernseher, die Stereoanlage und der DVDPlayer befanden, den er seinen Kindern zu Weihnachten geschenkt und dessen letzte Rate er gerade abbezahlt hatte. In einer Ecke stand der Esstisch, ebenfalls aus Kirschbaumholz, mit vier Stühlen. Er hatte nie verstanden, warum seine Frau darauf beharrte, eine Vase mit zwei Plastikrosen mitten auf dem Tisch stehen zu haben. An der Wand hing ein Poster des Duos Zezé Di Camargo & Luciano – sein Sohn war ein Fan – und eins von Flamengo als Weltpokalsieger von 1981.
Mit dem Heft zum Fernrohr gerollt stand er auf und ging in die Küche. Er sah den blauen Gasherd, den Kühlschrank und die Mikrowelle, die an der Wand festgemacht war und seit fast einem ganzen Jahr nicht mehr funktionierte. Ein Wasserfilter aus Ton und ein Stapel Teller und Pfannen teilten sich den Platz auf der Ablage. Rasch warf er einen Blick ins Schlafzimmer der Kinder – die unablässig dafür kämpften, endlich getrennte Zimmer zu bekommen – und in das Zimmer, das er und seine Frau bewohnten. Seit zwei Jahren klagte sie über die alten Möbel im Kinderzimmer.
Zurück im Wohnzimmer setzte er sich wieder aufs Sofa, das zusammengerollte Heft immer noch in der Hand. Bevor er sich daran machte, die Liste durchzugehen, erinnerte er sich, dass er vor allem wegen der Versprechungen seines Onkels in die Welt der Pistoleiros eingestiegen war. Er hatte mit dieser Arbeit reich werden wollen. Wenn er sich heute ansah, was er besaß, war er nicht sehr weit gekommen. Gewiss, er lebte besser als seine Eltern und die meisten Freunde, die sich Fernseher, DVD-Player oder Stereoanlage nie leisten könnten. Er besaß ein eigenes Motorboot und ein Auto, einen blauen Fiat 147 Baujahr
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