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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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ihn hier nicht erwartete. Wahrscheinlich auch, weil ich ihn immer nur von weitem gesehen hatte. Dabei war er mir schon öfter begegnet, immer am gleichen Ort: am Kanalufer, an einen Baum gelehnt, während er Steine übers Wasser hüpfen ließ.
    Aus der Nähe wirkte er ein bisschen jünger. Aber er ging bestimmt auf die dreißig zu.
    Er hat einen hübschen Mund, schüchterne helle Augen, dunkle Haare – zu lang für sein mageres Gesicht –, eine große Nase, dichte Augenbrauen. Er sieht nicht wirklich gut aus, das nicht. Aber irgendwie interessant.
    Während er mit mir redete, sah ich in seinen Augen diesen Ausdruck, den ich gut kenne. Diesen Blick, der nicht wirklich mich meint, sondern den, den er glaubt vor sich zu haben. Diesen anderen, der ich nicht bin. Er kapierte nicht, dass ich eine Frau bin. Er hielt mich für einen jungen Kerl, und ich habe es dabei belassen.
    Keine Lust, mich zu unterhalten, heute Abend. Und noch weniger, mich anbaggern zu lassen.
    Wir haben ein paar Takte geredet. Ich habe ihm den Kaffee bezahlt, habe gehört, wie er sich mit dumpfer Stimme bedankte, und nicht geantwortet.
    Ich bin durch die Nacht nach Hause gegangen, im Regen, mit einem seltsamen Freiheitsgefühl.
    Dem Gefühl, im Film meines Lebens die Hauptrolle zu spielen.
    Im Moment bin ich mit dem Drehbuch ganz zufrieden.

 
    I ch habe beschlossen, solange ich noch hier bin, Roswell an meinen freien Tagen spazieren zu fahren, sofern das Wetter mitmacht.
    Ich weiß nicht, ob das richtig ist.
    Wenn ich ihn ausfahre, machte ich ihm vor, dass es Horizonte gibt. Wir gehen am Wasser entlang, er singt mir seine selbstkomponierten Lieder vor, manchmal bringe ich ihn zum Schweigen, um den Vögeln zu lauschen.
    Wenn noch welche da sind.
    Am anderen Ufer hängen die beiden Typen rum.
    Das Leben fließt dahin, träge wie der Kanal.
    Meins geht weiter, seins versinkt wie der Haufen Bierdosen, die der dicke Spinner eine nach der anderen ins Wasser schmeißt, wahrscheinlich um den Grund abzudichten.
    Roswell ist am falschen Ufer festgemacht.
    Und ich treibe vorbei.
    Mein Leben schwimmt dahin wie ein Korken.

 
    W ir haben ein paar Spaziergänge gemacht, am gleichen Ufer des Kanals, ohne die beiden Hohlköpfe wiederzusehen. Roswell gefallen diese Ausflüge immer besser, manchmal verlangt er sogar danach.
    Ich gewöhne mich auch daran, glaube ich. Ich mag die Ruhe am Wasser.
    Als wir an diesem Tag losgezogen sind, war Marlène gerade dabei, ihre Geranien zu gießen. Es war fast schon heiß. Sie trug ein Hemdchen mit im Rücken überkreuzten Trägern, die sich ein bisschen in ihren Speck gruben und sie einschnürten wie einen Braten.
    Sie hat uns bis zum Gartentor nachgeschaut und dann Tobby zurückgerufen, weil er uns folgen wollte, und hat sich dann wieder ihren Blumen zugewandt, einen Schlager von Michel Sardou vor sich hin pfeifend.
    Ich habe sie schon mehrere Tage nicht mehr mit Bertrand über ihren Plan reden hören, aber ich bin auch nicht immer da. Ich bleibe immer öfter in der Stadt und komme erst spätabends heim, ich gehe in den Pub oder zu Ilhan. Einer der Oud-Spieler gefällt mir gut. Er heißt Kaan. Er hat einen schönen Körper. Zärtliche, traurige Augen.
    Ich tröste ihn gern.
    Wenn ich nach Hause komme, lese ich Krimis und schlafe ein. Und am nächsten Morgen kümmere ich mich um meine Wäsche, wenn ich freihabe, und gehe mit Roswell spazieren.
    Da es mir langsam langweilig wurde, immer den gleichen Weg zu nehmen, habe ich beschlossen, das andere Ufer auszuprobieren. Egal, falls wir den Bierdosenwerfer und seinen langhaarigen Freund treffen sollten. Seit ich Letzteren neulich abends im Pub aus der Nähe betrachtet habe, weiß ich, dass er nicht bösartig ist. Kein Grund zur Sorge. Ich habe ihn seitdem zweimal wiedergesehen, als ich mit Roswell spazieren ging. Er hat mir vom anderen Ufer kurz zugewinkt. Ich habe mit einem Kopfnicken geantwortet.
    Ich bin also in den Weg am rechten Ufer eingebogen. Er war deutlich breiter als der von gegenüber, mit ein paar kleinen Grasflächen hier und da, auf denen Gänseblümchen wuchsen.
    Roswell war glücklich, er schäumte auf seine Finger.
    Dank der Kissen, mit denen ich den Wagen gepolstert hatte, konnte er jetzt einigermaßen bequem sitzen bleiben, ohne beim ersten Schlagloch nach rechts oder links zu sacken.
    Zum Wasser hin war alles voller Stechginsterbüsche. Wir scheuchten im Vorbeigehen die Vögel auf.
    Schon von weitem habe ich zwei Gestalten unter der Brücke sitzen sehen. Ich

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