Der Poliziotto tappt im Dunkeln (German Edition)
Droge zu sich genommen. Aber stundenlang dem Gebräu beim Köcheln zuzusehen, um dann etwas zu tun, was so entschieden gegen seine Grundüberzeugung ging, das hatte etwas zutiefst Verzweifeltes, und für diese Verzweiflung musste es einen Grund geben. Ein Bild tauchte vor Roberto auf: Franco, der Zeuge ist, wie Ruggero Grilli erschlagen wird, der den Täter im Dunkeln an sich vorbeispazieren sieht und heilfroh ist, nicht entdeckt zu werden – und der dann nicht etwa abhaut, so schnell ihn seine Füße tragen, sondern dem Täter folgt, bis der in der jüdischen Synagoge verschwindet. Warum?
Sie passierten das Teatro Sanzio und den Eingang zu der spiralförmigen Rampe, die dreißig Meter hinunter zum Borgo Mercatale führte und die Federico da Montefeltro eigens hatte bauen lassen, damit seine Pferde ohne Umwege in die fürstlichen Marställe gebracht werden konnten. Hinter der Rampe, dort, wo die Arkaden des Corso Garibaldi begannen, zweigte die verwinkelte Treppe ab, die Roberto gestern Nacht schon genommen hatte, hinunter ins ehemalige jüdische Ghetto. Roberto zog Franco am Ärmel.
«Wo willst du hin?», fragte Franco mit unverhohlenem Entsetzen.
«Dahinunter», erwiderte Roberto lächelnd und zog ihn zur Treppe.
«Willst du nicht … hast du nicht …», Franco sah auf seine Uhr, «gleich elf Uhr … mit diesem Sergio Bonasera.»
«Der kann warten.» Roberto zog stärker, im gleichen Maße wehrte sich Franco. «Was ist, Franco?»
«Nichts.»
«Komm, wir gehen unten herum und dann die Via Mazzini hinauf. Ein bisschen Anstrengung tut uns beiden gut bei dieser Kälte.»
Zögerlich gab Franco seinen Widerstand auf und folgte Roberto die steilen Stufen hinunter. Roberto ließ sich Zeit, wechselte mit jedem, der ihm entgegenkam, ein paar Worte und tat so, als bemerkte er Francos zunehmende Nervosität nicht. Auf dem letzten Treppenabsatz deutete er nach rechts auf ein zweistöckiges Häuschen, das zwischen einem noch schmaleren Häuschen und der hoch in den nebligen Himmel sich reckenden Synagoge eingeklemmt war. Vor dessen einzigen beiden winzigen Fenstern hingen irdene Blumentöpfe, in denen im Sommer prachtvolle Geranien blühten, jetzt jedoch, im November, rotteten nur deren abgestorbene Überreste vor sich hin.
«Siehst du? Hier wohnt Gilberto Sabatini, der Rahmenmacher. Der beobachtet hat, wie sich die beiden Golems über Donna Domenica hergemacht haben.»
Francos Atem ging jetzt deutlich schneller.
«Und da, bei der Synagoge? Da wollte der eine Golem Donna Domenica das Lebenslicht ausblasen. Ich stand ungefähr hier. Und dann, track, kommt dieser zweite Golem von hinten herangepoltert, überholt mich und wirft sich dem ersten entgegen. Der flieht, in die Via Stretta hinter der Synagoge. Der zweite setzt nach, und dann sind beide im Nebel verschwunden.»
Franco stöhnte leise auf.
«Ich sage dir eins, Franco, ich hatte noch nie so eine verdammte Angst.»
Franco nickte hektisch.
«Und weißt du was? Selbst mit einem Rucksack voller Friedhofserde und mit einem auf die Stirn tätowierten Pentagramm wäre ich den beiden nicht gefolgt.»
Franco nickte weiter.
«Niemals.» Roberto machte eine Kunstpause, die auch von Attilio Brozzi hätte stammen können. «Nun frage ich mich allerdings: Warum bist du dem Golem gefolgt, der gerade vor deinen Augen Ruggero Grilli erschlagen hat?»
«Es war ja nur eine Halluzination.»
«Die Eigenheit einer Halluzination ist, dass man sie für Realität hält. Du warst also der festen Überzeugung, einen Golem vor dir zu haben. Vor dem du eine gewaltige Angst hattest. Noch einmal: Warum bist du hinter ihm hergelaufen?»
Franco schwieg zitternd.
«Ich könnte mir vorstellen, du wolltest dich vergewissern, es tatsächlich mit einem Wesen zu tun zu haben, dessen Auftrag es ist, Feinde der Juden zu eliminieren. War es so?»
Franco nickte zögernd.
«Ich frage mich, warum dir das so wichtig ist. Und vor allem: Warum bist du so fest davon überzeugt, dass der Golem es eigentlich auf dich abgesehen hat?»
«Können wir bitte weitergehen?»
«Warum? Es ist helllichter Tag. Was soll schon passieren?»
«Es ist, weil …» Franco schluckte und würgte, als befände er sich ohne einen Tropfen Wasser in der Wüste.
«Komm, lass uns sehen, ob jemand da ist. Vielleicht Rabbi Shlomo.» Er deutete auf die Synagoge, deren ursprünglich sehr hohe romanische Fenster mit Ziegelsteinmauern teilweise verkleinert worden waren, was die Symmetrie des Gebäudes empfindlich
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