Der Poliziotto tappt im Dunkeln (German Edition)
verletzte. Die Fensterrahmen, die Fensterläden und die eisernen Gitter waren viele Jahrzehnte nicht mehr gestrichen worden und gaben dem Gotteshaus ein etwas verwahrlostes Aussehen. Architektonisch war es eine Mischung aus fast majestätischer Größe und bewusst schmuckloser Unauffälligkeit, ein Symbol für das über viele Jahrhunderte herrschende Spannungsverhältnis zwischen der jüdischen Bevölkerung Urbinos und den jeweiligen Herrschern. Manche, wie Fürst Guido Ubaldo am Ende des 15. Jahrhunderts, gewährten den Juden große Freiheiten, andere wie der unmittelbar darauf folgende Fürst Francesco Maria zwangen sie, nur in den Häusern rund um die Synagoge zu leben, ausschließlich mit minderwertigen Gütern Handel zu treiben, Lebensmittel durften sie nur am Abend kaufen, und als Zeichen ihrer Glaubenszugehörigkeit mussten Männer gelbe Kappen und Frauen gelbe Schleier tragen.
Franco drängte weiterzugehen. Roberto hielt ihn fest und legte seine gesamte Kraft in den Griff.
«Franco. Worum geht es wirklich?»
Der Musiker kämpfte einen Moment gegen Robertos Griff an, gab dann aber seinen Widerstand auf. Wie in Zeitlupe lehnte er sich gegen Robertos Schulter und brach in Tränen aus. Jede Kraft schien aus ihm zu weichen, und Roberto hatte Mühe, das nicht unerhebliche Gewicht des Musikers zu halten. Eine Weile ließ er ihn weinen, bis er das Gewicht nicht mehr aushalten konnte und ihn loslassen musste. Franco setzte sich. Roberto ebenfalls. Der Boden war kalt und nass.
«Ich habe jüdische Freunde», flüsterte Franco.
«Wo ist das Problem?»
«Wie soll ich denen jemals wieder unter die Augen treten?»
Roberto schwieg, er spürte Francos Bereitschaft, seine Geschichte zu erzählen.
«Du kennst meinen palazzino , Roberto.» Er meinte sein kleines Stadthaus in der Via Minore auf halber Strecke zwischen der Piazza della Repubblica und der Porta Lavagine am östlichen Ende der Altstadt, das er von seinem Großvater geerbt hatte. «Du kennst auch mein Studio unten in der ehemaligen cantina ?»
«Kenne ich, ja.»
«Ich komponiere gerade die Musik zu einem Ballett. Es geht um einen einfachen Menschen, der unschuldig in einem mittelalterlichen Verlies eingekerkert wird, ohne Licht und ohne Hoffnung, sein Gefängnis je wieder zu verlassen. Für das Stück brauchte ich Klopfgeräusche, verstehst du? Hier geht es um einen Menschen, der so verzweifelt ist, dass er tatsächlich hofft, durch die Wand einen Weg nach draußen zu finden.» Franco schauderte es, und er konnte für einen Moment nicht weitersprechen. «Ich habe mit verschiedenen Gegenständen die Ziegelwände in meinem Studio abgeklopft und die Klänge aufgezeichnet. Pock-Pock-Pockpock-Pock. Pock. Pock.»
Roberto konzentrierte sich auf seine Knie, um etwas gegen seine wachsende Ungeduld zu tun. Jetzt nicht unterbrechen.
«Und dann, an einer Stelle, da klang die Wand so hohl und dünn. Puck-Puck-Puckpuck-Puck. Puck. Interessant, habe ich gedacht und mich nicht weiter darum gekümmert. Aber dann fing ich an, nachts davon zu träumen. Immer wieder dieses Geräusch. Kannst du dir das vorstellen?»
Roberto nickte. Hauptsache, Franco redete weiter.
«Es wurde zu einem Morsezeichen, zu einer Botschaft der Ziegelwand, die sagte: Finde heraus, was sich hinter mir verbirgt.»
Roberto vermied es, darauf zu reagieren. Für ihn würde wahrscheinlich ein Puck-Puck nichts anderes sein als ein Puck-Puck.
«Der Druck wurde immer mächtiger, bis ich es nicht mehr aushielt. Ich bin dann in die ferramenta von Buccarini und habe mir einen elektrischen Hammer geliehen, so ein schweres Gerät von Hilti.»
Er machte eine Pause, und Roberto sah sich genötigt, etwas zu sagen. «Ein pneumatischer Hammer, fast so etwas wie ein Presslufthammer.»
«Sehr schwer. Aber hui! Ich sage dir, der ging wie nichts durch die Wand.» Franco lächelte versonnen, bis seine schwere Traurigkeit wieder zurückkehrte. «Und was finde ich hinter den Ziegeln? Einen Hohlraum, ziemlich groß und vollkommen leer. Bis auf eine uralte Kladde. Weißt du, was eine Kladde ist?»
Roberto schüttelte den Kopf. Seine Knie waren starr vor Kälte, seine Hose am Hintern feucht. Ein widerliches Gefühl.
«Eine Kladde ist ein Notizbuch für vorläufige Geschäftseintragungen, meist mit marmoriertem Einband. Das Buch war alt, ganz eindeutig aus den dreißiger oder vierziger Jahren. Ich schlage es auf und beginne zu lesen: Es war das Tagebuch meines Opas. Zuerst wollte ich es gleich wieder weglegen. Da war
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