Der Portwein-Erbe
einer Anhöhe hinunterging. Unten überquerte man die Avenida da Liberdade, wie er auf einem Straßenschild las. Er sah
den Obelisken, an ihm konnte er sich orientieren. Es war ihm unangenehm, herumgefahren zu werden, ohne dass er wusste, wohin
es ging. Er war diesen Zustand endgültig satt. Als er den Obelisken wieder sah, diesmal von der anderen Seite, wusste er,
dass sie zurückfuhren. Er begriff, dass der Fahrer nicht geradewegs auf sein Ziel zusteuerte. Wozu der Quatsch, waren das
wieder Otelos |291| übliche Sperenzchen? Nicolas zwang sich, ruhig zu bleiben. Das Ganze würde sich bald aufklären. Dann kamen sie zum zweiten
Mal an einem Springbrunnen vorbei, und Nicolas verlor die Geduld. Er sah sich um, um zu überprüfen, ob ihnen jemand folgte,
und er lauschte angespannt auf die Worte des Fahrers mit einem unbekannten Anrufer. Er verstand inzwischen weit mehr, als
er seine Umwelt wissen ließ. Er meinte zu verstehen, dass er zu einem Treffpunkt gebracht werden sollte. Ob der Chef noch
andere Anweisungen habe. Der Chef? Nicolas’ Nervosität nahm zu. Nach den üblen Erfahrungen der letzten Wochen sollte er kein
Risiko eingehen. Otelo konnte sich zum Teufel scheren, oder er sollte sich offen zeigen. Oder waren das nicht die Leute, mit
denen er verabredet war?
Der Wagen hielt an einer Ampel, als Nicolas sich an Ritas Warnung erinnerte. Er war in einem gänzlich unbekannten Teil Lissabons.
Die Straßen waren belebt, Menschen schoben sich an Geschäften vorbei, auf der anderen Straßenseite befand sich ein Kaufhaus
– Nicolas riss die Tür auf, rollte sich aus dem Wagen und huschte geduckt zwischen den Passanten auf die Eingangstür des Kaufhauses
zu. Hinter ihm begann ein Hupkonzert. Entweder hatte er sich gerade unsterblich blamiert oder sich gerettet.
Nach einer Viertelstunde über Rolltreppen und Korridore, als er sicher war, dass ihm niemand folgte, bestieg er einen Bus
mit dem Fahrtziel Cais do Sodré, dem einzigen Platz, an den er sich erinnerte, von dort aus würde er das Hotel finden. Die
Rushhour erreichte ihren Höhepunkt. Nicolas fand sich von Menschen eingekeilt und herumgestoßen, wie er es aus der Berliner
U-Bahn kannte. Das war er nicht mehr gewohnt, seine Stimmung sank auf den Nullpunkt. Er hatte die Nase voll vom Versteckspielen.
Dann kam ihm Rita in den Sinn. »
Lovely Rita, meter maid, where would I be without you
«, summte er vor sich hin. In |292| Berlin würde er keine Chance haben, mit dieser wunderbaren Frau etwas anzufangen. Von Sylvia war er inzwischen unendlich weit
weg. Sie existierte gar nicht mehr, weder in seinem Fühlen noch Denken. Plötzlich fiel ihm ein, dass er zur Verabredung mit
Rita zu spät kommen würde. Aber das ließ sich telefonisch regeln.
Ihre Wohnung lag in einer kleinen Seitenstraße des Alfamaviertels. Rita hatte sie erst vor einem halben Jahr gemietet. Zwei
winzige Räume, eine Küche, in der man sich kaum umdrehen konnte, und ein Duschbad, dafür eine Terrasse in den Ausmaßen der
Wohnung, mit Liegestuhl, Sitzgruppe und jeder Menge Blumentöpfe. Beim Blick über Lissabon hatte Nicolas den Eindruck, auf
einer Promenade am Meer zu stehen. Vor wenigen Monaten hätte ihm dieser Blick besser gefallen als der von seiner Terrasse
am Douro, jetzt war es umgekehrt.
Rita kannte ein kleines Restaurant in der Nähe, recht günstig, aber wäre ihm das als Quintabesitzer fein genug? Hörte er da
heimliche Kritik? Sollte er sich bemüßigt sehen, die Geschichte seiner Familie vor ihr auszubreiten?
Rita brachte einen gekühlten Rosé auf die Terrasse, und gemeinsam schauten sie über die Stadt, hörten in der Nähe die Straßenbahn
kreischen, der Lärm der Autos war weit weg. Wieder waren sie befangen und wussten nicht, wie sie miteinander umgehen sollten,
da nichts Geschäftliches zu besprechen war. Nicolas haderte mit sich, ob er ihr von der Irrfahrt des Nachmittags berichten
sollte. Würde er sich lächerlich machen? Oder sollte er ihr sagen, dass ihm ihre Wohnung gefiel, so geschmackvoll mit dem
Wenigen eingerichtet, das sie sich leisten konnte. Er könnte ihr sagen, dass es wunderbar war, sie anzuschauen, dass er sie
schön fand und dass er nicht wollte, dass dieser Moment endete. Aber das wäre zu intim, außerdem wollte er sie nicht bedrängen.
Wieso war er dann so befangen, ja geradezu ängstlich und darauf bedacht, ihr nicht zu nahe zu kommen? |293| Seine Gedanken wurden vom Klingeln des Telefons
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