Der Portwein-Erbe
noch, um er selbst zu sein. Er hatte keinen Bock auf die Frankfurter
Finanzszene, er wollte sich sein Leben nicht diktieren lassen. Außerdem hat er etwas gesucht, was es nicht gibt.«
»Wie kommst du darauf?«
»Durch seine Bücher. Bei allen Autoren dreht es sich um Erkenntnis, um Kritik der Verhältnisse, um Freiheit und Unabhängigkeit,
um eine menschenwürdige Gesellschaft . . .«
Rita stimmte ihm zu. »Das ist wirklich ein Traum. Ich glaube, sie geben deshalb so viel Geld für die Raumfahrt aus, weil sie
hoffen, irgendwo eine Spezies zu finden, wo das möglich ist. Bei den romanischen Autoren ist es nicht anders, da geht es um
die Diktatoren und um das, was sie in unseren Köpfen anrichten. Es geht immer um Gemeinheiten. Die Verzweiflung von Fernando
Pessoa hat mich anfangs geschockt, sein Ekel vor den Menschen, vor diesem Leben, Saramago setzt es fort . . .«
»Ich habe gerade ›Stadt der Blinden‹ gelesen, ein grauenhaftes Buch . . .«
». . . ein großartiges Buch«, verbesserte Rita. »Den ›Doppelgänger‹ musst du auch lesen, steht alles in der Bibliothek deines
– na, jetzt in deiner«, korrigierte sie sich schnell. »In beiden Sprachen. Du kannst es dir aussuchen. Aber wir waren bei
einer anderen Frage, nämlich was der Hausarzt zur Todesursache deines Onkels gesagt hat.«
»Stimmt«, sagte Nicolas, »das wollten wir auf deiner Terrasse besprechen . . .«
»Es gäbe da noch ein anderes Thema . . .« Rita blieb stehen. »Willst du die Quinta behalten?«
Er biss sich auf die Unterlippe. »Wenn man mich lässt.«
»So darfst du die Sache nicht angehen.«
»Wie dann?«
|299| Rita stellte ihre Liegestühle auf die Veranda, schob ein Tischchen dazwischen und ging Wein holen. Die Musik war etwas in
Richtung Bossa nova und gut zum Tanzen. Er nahm Rita die Flasche und die Gläser aus den Händen, stellte alles auf das Tischchen
und zog sie auf einen freien Platz zwischen den Blumenkübeln. Sie erzählte von ihren Anfängen in Lissabon, wie der Putz von
den pittoresken Fassaden der Altstadt abgebröckelt war, wenn man vom Reiseführer aufblickte und sich die Stadt wirklich ansah.
Dann sprach sie von Friedrich in einer Weise, die Nicolas eifersüchtig machte. Er würde auch gern so gesehen: souverän, selbstbewusst,
belesen, ein Weinexperte. Rita musste sich mit dem Neffen begnügen, Friedrich war tot, es gab nur Nicolas und die Gegenwart.
Sie sprach von Friedrichs Aura der Einsamkeit und des tiefen Misstrauens, das sie dahinter vermutet hatte. Seine Frau hätte
sich nie gezeigt. Einmal nur hätte sie Dona Madalena in Peso da Régua gesehen, zusammen mit einem Mann.
»In dem Nest kennen sich ja alle. Meine Kollegin aus dem Reisebüro kannte ihn, einen Arzt, Doktor Velo oder so.«
Nicolas horchte auf. »Sie meinte sicher Dr. Veloso.«
»Kann sein.«
»Wieso hast du mir das nicht früher gesagt?«, fuhr er erschrocken auf.
»Sei bitte nicht so heftig, du erschreckst mich. Und sag jetzt nicht, es täte dir leid. Das hasse ich noch mehr.« Sie ging
zu ihm und legte ihm den Finger auf die Lippen. Er zog ihn weg und küsste sie.
»Alles Weitere bitte erst morgen, ja? Bitte . . .«
Fürs Frühstück blieb nicht viel Zeit. Ein wenig geröstetes Weißbrot, Kaffee ohne Milch, aber mit Zucker. Nicolas begleitete
Rita zum Reisebüro in einer Nebenstraße des Rossio. Im Vorübergehen erzählte sie ihm, dass man auf |300| diesem Platz früher die Ketzer verbrannt hatte. Sie erzählte es in ihrer leicht ironischen Art, als stünde dahinter kein grauenhaftes
Schicksal. Seine Stimmung war nach dem Aufwachen noch wunderbar gewesen, Rita in seinen Armen zu fühlen, sie anzusehen. Doch
kaum hatte er sich von ihr verabschiedet, meldete sich die Angst zurück. Er bog abrupt in einen Hausflur und vergewisserte
sich durch die Scheiben eines Schuhgeschäftes, dass ihm niemand folgte. So kann ich unmöglich weiterleben, dachte er. Er ging
durch die Baixa hinauf zum Chiado, kam an der Bronze des sitzenden Fernando Pessoa vorbei und am Dichterstandbild von Camões.
Er folgte der Rua S. Pedro de Alcantara und bog ins Barrio Alto.
Im Hotelzimmer war alles in Ordnung, niemand hatte seine Sachen durchwühlt, die er so hingelegt hatte, dass es ihm aufgefallen
wäre. Vor die Schublade des Nachttischchens hatte er ein Haar geklebt, das sich gelöst hätte, falls jemand die Schublade geöffnet
hätte. Er legte sich aufs Bett und starrte wieder an die Decke. Teufel –
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