Der Portwein-Erbe
Nicolas
kam ihm zuvor. Er kannte das Etikett und hielt es Rita hin:
»Weißt du, was das zu bedeuten hat?«, fuhr er sie an.
Sie wusste nicht, was er meinte, dann begriff sie.
»Fragen wir doch den Wirt.«
»Es ist einer der Weine auf unserer Karte, und Sie haben ihn selbst bestellt.«
Nicolas hasste derartige Eingriffe in sein Leben, er hasste es, wenn man ihn irgendwohin schob oder zog, wenn er verplant
wurde. Nur Ritas Anwesenheit verhinderte, dass er wutentbrannt das Lokal verließ, Lissabon den Rücken kehrte, seine Siebensachen
auf der Quinta einsammelte, Pereiras Vertrag annullierte und sich in Berlin irgendeinen Scheißjob suchte. Er war gespannt,
was Otelo sich noch einfallen ließe. Flüsternd erzählte Nicolas Rita vom Raub des Wagens und bemerkte, dass ihre Hände so
dicht beieinanderlagen, dass lediglich ein Streichholz dazwischen gepasst hätte. Als Rita es auch bemerkte, schaute sie ihn |296| mit einem jener Blicke an, die sein Innerstes nach außen kehrten.
Während des Hauptgerichts erklärte Nicolas seine Schlussfolgerungen wegen der entlassenen Arbeiter und bestellte eine zweite
Flasche Wein. Über die Schilderung der Zustände auf der Quinta vergaß er die Zeit, er bemerkte kaum, dass er inzwischen Ritas
Hand ergriffen hatte, und sah erst wieder auf, als der Herr vom Nachbartisch zahlte, aufstand und im Weggehen grüßte.
Rita sah ihm nach. »War der nicht auf dem Bahnhof gewesen?«
»Das meine ich auch. Was hat er gesagt?«
»
Até amanhã
, habe ich verstanden, bis morgen. Hast du das gehört?«
»Nein«, meinte Nicolas nur und wollte mit seiner Erzählung fortfahren, doch Rita ließ nicht locker. »Bis morgen hat er gesagt.
Wieso bis morgen? Was meint er damit? Nach allem, was du mir erzählt hast, wird es mir auch unheimlich.«
»Du hast dich verhört«, versuchte Nicolas sie zu beruhigen, dabei blieben ihm die Worte fast im Hals stecken.
Als rechts und links von ihnen die Tische frei wurden, unterhielten sie sich entspannter. Nicolas blieb trotzdem mit dem Mund
an ihrem Ohr, und irgendwann drehte er sachte ihren Kopf, bis sie sich in die Augen sahen, und küsste sie.
»Eben noch hatte ich Angst«, sagt er, »jetzt bin ich . . .« Er schluckte.
»Gefühle hängen alle in geheimnisvoller Weise zusammen«, flüsterte Rita und verschloss ihm den Mund.
Als sie gehen wollten, war die Rechnung bezahlt. »Von dem einzelnen Herrn vom Nebentisch?«, fragte Rita den Wirt.
»Sagen wir, es war ein Freund, ein sehr guter,
no fundo quase um membro da nossa família
, eigentlich mehr ein |297| Mitglied unserer Familie, wenn Sie so wollen.
E pela morte do seu tio, eu sinto muito
.« Er schüttelte Nicolas die Hand.
Rita blickte den Wirt erstaunt an und dann zu Nicolas hinüber. »Es täte ihm leid, sagt er, das mit dem Tod deines Onkels.«
»Noch ein Alleswisser. Hier scheint jeder über einen Geheimdienst zu verfügen. Lass uns verschwinden.«
In den Gassen der Alfama war es still geworden. Hier und da hörte man Musik oder das Lachen der Nachtschwärmer. Nicolas und
Rita wanderten Arm in Arm durch das alte Viertel, über Kopfsteinpflaster, unter Bögen hindurch und gelangten zu einem Aussichtspunkt,
von dem aus sie über den Tejo schauten, und Rita erklärte die Stadt. Sie tranken in einer winzigen Bar mit höchstens fünf
Barhockern noch ein Glas und redeten ohne Pause.
Nicolas hörte mit Interesse, was es Rita gekostet hatte, gegen den Willen ihrer Familie zu studieren und den Eltern deutlich
zu machen, dass sie sich damit nicht über sie erhob. Nach dem Examen wurde klar, dass sie als Romanistin niemals eine Anstellung
finden würde. Die Häme ihres Vaters war widerlich gewesen, als sie wieder im Reisebüro anfing, und um dem zu entgehen, war
sie nach Lissabon verschwunden und hatte ihren langjährigen Freund verlassen. Hier ging es in ihrem Sinne voran, auch wenn
das Leben entbehrungsreich war. Sie war zumindest niemandem Rechenschaft schuldig. Am meisten unterstützte sie die Familie,
bei der sie während ihres portugiesischen Studienjahrs gewohnt hatte.
»Wie weit muss man eigentlich laufen, damit sie einen in Ruhe lassen?« Die Frage war mehr eine Feststellung.
»Wer soll einen in Ruhe lassen, die Familie?
»Klar. Du kannst rennen, so weit du willst, du entkommst ihr nicht, du schleppst sie überall mit hin. Ich glaube zu wissen,
weshalb Friedrich weggegangen ist. Wahrscheinlich, |298| um den Konflikt mit seinem Bruder zu vermeiden, aber mehr
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