Der Portwein-Erbe
unterbrochen.
»Für dich«, sagte Rita erstaunt. »Wem hast du meine Nummer gegeben?«
Nicolas blickte sie bestürzt an. »Niemandem, ich schwör’s!« Er griff nach dem Hörer. »Ja?«
»Ich hatte gesagt, du sollst nicht Taxi fahren. Benutze nur Bus und die
eléctrico
«, sagte eine feste und entschiedene Stimme auf Deutsch mit starkem Akzent. Die Stimme klang trotzdem freundlich. War das
Otelo? Nicolas hatte sich seine Stimme älter vorgestellt.
»Geht heute Abend im ›Palmeira‹ essen. Die junge Dame kennt das Lokal. Es ist nicht weit. Mein Freund Nogueira kocht sehr
gut – für 21 Uhr ist ein Tisch bestellt . . .«
Bevor Nicolas sich dazu äußern oder etwas fragen konnte, war die Verbindung unterbrochen. Auf dem Display des Telefonhörers
war keine Nummer erschienen.
»Ich wusste gar nicht, dass er Deutsch spricht . . .«
»Erklär mir bitte, was das alles zu bedeuten hat«, sagte Rita und stellte ihr Glas ab. »Ich wüsste gern, worauf ich mich einlasse.«
Ich auch, dachte Nicolas. Dann begann er, ihr alles zu erzählen.
»Das heißt, dass wir beobachtet werden, nicht nur du, sondern auch ich«, sagte Rita. »Jemand ist über deine Schritte im Bilde,
sowohl auf der Quinta als auch hier. Dann weiß Otelo, dass du bei mir bist – und andere wissen es vielleicht auch. Ich glaube
nicht, dass nur dieser Gonçalves dahintersteckt. Das wäre zu viel für einen, und er ist ein kleiner Fisch. Die Weinberge sind
allein fünf Millionen wert. Das ist zu groß für ihn – das ist jedenfalls mein Eindruck. Und was kosten die Gebäude und Grundstücke?«
»Wenn die Typen aus dem Restaurant sich melden, werde ich es erfahren.«
»Woran ist dein Onkel gestorben, an Herzversagen? Das |294| ist ziemlich schwammig. Hat man es nicht weiter ausgeführt?«
»Nein, Dr. Veloso hat den Totenschein ausgestellt.«
»Was weißt du über ihn? In welcher Beziehung stand er zu deinem Onkel?«
»Sie kannten sich. Er war nicht sein Hausarzt.«
»Und was sagt der?«
»Worauf willst du hinaus, Rita?«
»Lass uns ins ›Palmeira‹ gehen, sonst vergeht mir der Appetit, außerdem ist es Zeit. Wir können nachher auf der Terrasse weiterreden,
da hört niemand zu.«
Nicolas musste unter der niedrigen Eingangstür des Restaurants den Kopf einziehen. Das »Palmeira« machte einen schlichten
Eindruck, betrachtete man die Zahl der Gäste, musste das Essen aber sehr gut sein. Drinnen war es höllisch heiß. Es roch nach
allen Rezepten Portugals und seiner ehemaligen Kolonien, und man verstand beim Geschrei der tafelnden Gäste, dem Klappern
des Bestecks und der Teller kaum, was die Kellnerin sagte, die mit mehreren Tellern auf sie zukam.
»Ob wir reserviert haben, fragt sie«, übersetzte Rita.
»
Sim
«, meinte ein älterer Mann, wahrscheinlich der Wirt, und winkte sie in einen Gang, an dessen Ende sich der Hof öffnete. In
seiner Mitte wuchs in einem Kiesbett der Namensgeber der Kneipe, eine einsame Königspalme, die bis zu den Dächern der umliegenden
Häuser ragte. Ringsum waren bis auf einen alle Tische besetzt.
»Es macht mich wütend, wenn alle anderen mehr wissen als ich.« Nicolas war drauf und dran zu gehen, aber Rita hielt ihn fest.
Sie war neugierig, was geschehen würde, denn der Wirt behandelte sie wie Stammgäste. Wasser, Wein, Brot und Oliven standen
auf dem Tisch.
Nicolas musterte unauffällig über den Rand der Speisekarte hinweg die Leute an den anderen Tischen. Hoffentlich |295| befand sich nicht »zufällig« ein bekanntes Gesicht darunter. Er hatte nicht die geringste Ahnung, worauf er achten musste.
In der Nähe saßen Paare und Gruppen. Man plauderte angeregt, aß mit Lust und genoss die Sommernacht. Nur am Nebentisch aß
ein älterer Mann allein, sein Gesicht lag im Schatten, von seinem geneigten Kopf sah Nicolas lediglich den weißen Haarkranz
und eine ausdrucksvolle Nase. Der Mann trug im Unterschied zu den anderen Gästen einen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte,
und er hatte trotz der Hitze nicht einmal das Sakko über die Stuhllehne gehängt. Er hob den Kopf, ihre Augen trafen sich,
dann blickte der Mann auf Nicolas’ Pflaster, ohne eine Reaktion zu zeigen, und widmete sich wieder seinem Essen. Er war bereits
beim Hauptgang, also konnte er ihnen nicht gefolgt sein. Aber Nicolas wurde das Gefühl nicht los, den Mann schon mal gesehen
zu haben. Der Ober, oder vielleicht war es sogar der Inhaber des Lokals, griff nach der Weinflasche, um einzuschenken.
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