Der Portwein-Erbe
er wurde missmutig und fragte sich, wozu er sich derartigen Gefahren aussetzte. Er könnte es bequemer
haben. Wirklich zu leben, war allerdings immer gefährlich. Weder Frankfurt noch der Platz am Rechner des Architekturbüros
waren bequemer, wenn er bedachte, was er dafür aufgeben müsste.
Er hatte diesen schrecklich guten Roman José Saramagos gelesen, ›Die Stadt der Blinden‹. Friedrichs Bibliothek war unerschöpflich,
in einem Leben zusammengetragen. Dieses Buch und die Menschensicht des Autors hatten ihm keinen Mut gemacht. ›Die Stadt der
Sehenden‹ stand im Regal direkt daneben, er würde es nach der Rückkehr auf die Quinta lesen.
Der Zug war nahezu leer, als er die Endstation Santa Apolónia erreichte. Mutlos griff er nach der Reisetasche. Wenn sich das
Treffen mit Otelo als Seifenblase herausstellte? Aber da stand SIE, am Anfang des Bahnsteigs, Rita, Lovely Rita, und empfing
ihn mit einem strahlenden Lächeln. Sie fielen sich in die Arme und blieben umschlungen stehen, als wären sie bereits ein Liebespaar.
Und er musste gegen die Tränen kämpfen. Es war ihm gleichgültig, dass der ältere Herr, der an einem Pfeiler lehnte, herüberstarrte.
»Was ist mit deinem Kopf passiert?« Rita schob Nicolas |289| von sich weg. »Was sind das für Pflaster?« Sie sah ihn an – in ihren Augen lagen Wiedersehensfreude und Erschrecken.
»Ich erklär’s dir später, aber wieso bist du überhaupt hier? Woher weißt du . . .?«
»Dein Senhor Otelo hat mich angerufen. Er sagte lediglich,
o Nico chega na estação de Santa Apolónia as quatro e média
, du kämest um 16.30 Uhr in Santa Apolónia an. Mehr nicht. Und du würdest wissen, was dann zu tun sei. Und du darfst auf keinen
Fall mit irgendeinem Taxi fahren, sondern nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Es ist nicht weit, wir müssen zur Estação
Cais do Sodré, und von dort nimmst du den Bus zum Barrio Alto. Es ist ein schönes Viertel, lebendig, gute Leute, Alt und Jung
gemischt. Ich kann dich leider nicht hinbringen, nur bis zu den Cais. Wir haben eine Besprechung wegen meiner Weinreisen.
Da ist deine Quinta natürlich mit im Programm.« Sie lachte. Allein um das zu hören, hatte sich die Reise gelohnt.
Auf der Fahrt zu den Cais blieben sie befangen, wechselten kaum ein Wort und sahen sich an.
»Wir treffen uns heute Abend. Du kommst zu mir? Ich wohne in der Alfama, in der Nähe vom Castelo de São Jorge, da kommst du
mit der Straßenbahn hin, mit der Linie sieben. Und denk dran, nicht mit dem Taxi fahren!« Mit diesen Worten verschwand sie
in der Straßenbahn, und Nicolas fühlte sich schrecklich einsam. Er wusste nicht, was er in der Stadt anfangen sollte. Wieder
war er von anderen abhängig, die ihn herumschickten. Als er zuletzt in Lissabon gewesen war, hatte er ein Programm gehabt.
Er überquerte den Platz und ging zur Bushaltestelle. Mit seinen Portugiesischkenntnissen war es einfach für ihn, das angegebene
Hotel zu finden. Es war eher familiär als touristisch. Das Zimmer war reserviert. Er empfand es als eng, da er sich inzwischen
an ein großes Haus gewöhnt hatte, dafür bot sich zum Hof ein Blick auf das nachbarschaftliche Leben. Nicolas war keine zehn
Minuten im Zimmer, als das |290| Telefon läutete, und er spurtete tropfnass aus der Dusche an den Apparat.
»An der Rezeption ist ein Herr für Sie, der Sie abholen will.«
»Wie heißt er?«
»Sie wüssten Bescheid«, sagte der Portier nach einer kurzen Rücksprache auf Portugiesisch.
Wenig später betrat Nicolas das Foyer. Ein Mann, nur wenig kleiner als er, kam auf ihn zu. Weder den bisherigen Beschreibungen
noch dem Alter nach konnte es sich um Otelo handeln. Eine Sonnenbrille verbarg die Augen, ansonsten sah er grau wie ein Großstadtmensch
aus. Er gab Nicolas die Hand.
»
Please, follow me
«, sagte er und bedeutete, ihm zu folgen. Nicolas betrachtete von hinten den dichten Haarschopf. Der Haarwuchs dieses Mannes
musste jeden Friseur an die Grenze seiner Fähigkeiten bringen. Nicht ein Haar, das gerade aus der Kopfhaut wuchs, die gesamte
Oberfläche war von gegenläufigen Wirbeln geradezu verunstaltet.
Der Fremde hielt die rückwärtige Tür einer Taxe auf. Beim Wegfahren bemerkte Nicolas, dass ein Mann die steile Straße herauflief,
stehen blieb und ihm nachstarrte. Hatte er ihm ein Zeichen gegeben?
Der Fahrer schaltete das Radio ein und stürzte sich in den Verkehr. Nicolas verlor jede Orientierung, er merkte nur, dass
es von
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