Der Portwein-Erbe
sein? Die Stille
war kaum zu ertragen. Kein Brummen von Doppelstockbussen, keine Polizeisirene, kein Rettungshubschrauber, kein tiefergelegter
BMW mit dröhnenden Bässen. Die Hausbesorger mochten Stille gewohnt sein, konnten schweigen, redeten nicht viel. Nicolas hörte
sie, wenn in ihren Räumen eine Tasse auf der Untertasse klirrte. Worüber hatte er mit den Kollegen im Büro geredet? Hier arbeiteten
alle schweigend, in den Pausen redeten sie in irrsinniger Geschwindigkeit aufeinander ein, danach ging es still weiter. Und
abends? Gaben sie sich mit dem Fernsehen zufrieden?
Wie soll ich das aushalten?, fragte sich Nicolas. Er nahm sich vor, am nächsten Wochenende zu Carlos nach Vila Real zu fahren.
Aber mit einem gegipsten Arm? Schlecht machbar. Nein, außerdem müsste er unter der Woche hin, denn am Wochenende jobbte Carlos
in Porto und besuchte seine |160| Freundin. Nicolas dachte an die Wahrsagerin und das dumme Zeug, das sie geredet hatte: sehen, wohin man tritt! Allgemeiner
ging es nicht. Moment – was war auf der Treppe gewesen? Hatte er da nicht richtig hingesehen? Völliger Blödsinn, dachte er,
wie konnte jemand etwas über ihn wissen, der ihn nicht kannte?
Er kehrte ins Esszimmer zurück und wiederholte die ersten Lektionen. Als ihm der Kopf rauchte, ging er ins Büro und schaltete
Friedrichs Rechner ein. Gonçalves war am Sonntag nicht da, er konnte sich ungestört bewegen und herumstöbern, ohne belauert
zu werden. Die portugiesischen Begriffe der Computersprache müssten leicht zu lernen sein, die Systeme waren identisch. Außerdem
lag das Wörterbuch an seiner Seite.
Die Karte mit Friedrichs Weinbergen entdeckte er zufällig auf dem PC. Sie ließ sich vergrößern und verkleinern und in alle
Richtungen schieben. Es war eine Karte dieses Berges, die sich durch Anklicken in verschieden große und unterschiedlich geformte
Teilstücke zerlegen ließ. Jedes Teilstück war anders schratiert, mal senkrecht, dann wieder waagerecht, mal schräg nach unten
oder geschwungen, dickere und dünnere Linien wechselten in unbegreiflicher Reihenfolge, und erst als Nicolas die Karte bis
aufs Maximum vergrößerte, erkannte er, dass es sich um den Verlauf der Rebzeilen handelte.
Er fand die Straßen, die Piste zur Quinta sowie Wirtschaftswege, auch die Gebäude und sogar die Stützmauern der Terrassen.
In den Teilstücken waren Begriffe aufgeführt wie
patamar, socalco, vinha tradicional, patamar velho, oliveira, vinha ao alto
. Im Wörterbuch war
socalco
als terrassierter Weinberg zu finden. Ein
patamar
war der einzelne Absatz. Er würde hingehen und sich den Weinberg ansehen müssen, um die Begriffe richtig zu verstehen.
Er schloss alle Programme und richtete für den Rechner auf seinem Tisch ein Passwort ein. Jeder Experte würde es |161| knacken können, aber die vermutete Nicolas nicht unter Friedrichs Angestellten. Wenn es einen Experten gab, müsste eine Rechnung
für den EDV-Berater zu finden sein. Es gab auf dem Computer sicher ein Warenwirtschaftssystem, den Schriftverkehr und das,
was er vom Weingeschäft noch nicht wusste.
Er probierte den Zugang ohne Passwort, der blieb ihm verwehrt. Mit seinem neuen Passwort kam er ins System. Als er aufsah,
bemerkte er den Hund. Er kam bis an die Tür, legte sich jedoch so hin, dass er Nicolas im Blick hatte. Wovor hatte das Tier
Angst? Vor Gonçalves, das war klar, aber vor den anderen auch? Vor Dona Firmina zum Beispiel? Sie verhielt sich Nicolas gegenüber
mal freundlich, dann wieder, ohne dass er einen Grund dafür fand, wandte sie sich brüsk ab. Oder Otelo Gomes?
Head over heels
hatte Carlos gesagt, Hals über Kopf sei Otelo verschwunden. Unter welchen Umständen verlässt man sein eigenes Haus Hals über
Kopf? Oder hatte er etwas zu verbergen? Fürchtete er womöglich eine Revision des Betriebs?
Wenn er in Tabuaço aufgewachsen war, dann würde er dort auch eine Familie, Freunde oder zumindest gute Bekannte haben; die
mussten seine Lissabonner Adresse kennen oder die der Schwester. Diese Freunde musste Nicolas finden. War Pereira ihm gegenüber
wirklich ehrlich? Als Referenz hatte er nur Hassellbrinck. Er schaute sich im Internet sein Bankkonto an. Pereira hatte Wort
gehalten, die 3500 Euro für Mai waren überwiesen worden. Er schrieb Sylvia eine freundliche E-Mail, erwähnte jedoch nicht
die Schwierigkeiten und vor allem nicht seine Gefühle. Dann wandte er sich wieder dem Wein zu.
Er blätterte
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